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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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In sehr bedenklicher Ausdehnung wußten sich nun Geistlichkeit und
Orden des Jugendunterrichtes zu bemächtigen. An den Gymnasien lehrten
die Benedictiner, an den Mädchen-Instituten die englischen Fräulein, an
den Elementarschulen die Schulbrüder und Schulschwestern. Der Geschichts-
unterricht an den Gymnasien wurde ausschließlich durch den betreffenden
Religionslehrer ertheilt. Die für den geistlichen Stand bestimmten Knaben
wurden von frühester Jugend an in den bischöflichen Seminarien unterge¬
bracht, ihrer Familie und dem Umgang mit anderen Kindern möglichst ent-
zogen. Auch die Studenten der Theologie hatten sich einem strengen Internat
zu unterwerfen; die freie Wahl der Collegien war ihnen versagt. Die
Krankenhäuser kamen in die Hände der barmherzigen Schwestern, die bei
aller Anerkennung ihrer Aufopferungsfähigkeit doch der Vorwurf trifft, durch
ihre Bekehrungssucht oftmals den religiösen Frieden in Bayern gestört zu
haben. Auswärtige Ordensgeistliche, namentlich Jesuiten, durchzogen aus-
spionirend das Land. Während man so der katholischen Kirche gestattete,
den ganzen Apparat auszubreiten, dessen sie sich zu bedienen pflegt, um die
Geister einzufangen und zum unbedingten Gehorsam gegen den Clerus zu
gewöhnen, verfuhr man auf der anderen Seite gegen gewisse, der Kirche un¬
bequeme Seelen mit einer barbarischen Strenge. So wurde den freien Ge¬
meinden und Deutschkatholiken, welche im Jahre 1848 durch ausdrückliches
königliches Decret die Aufnahme als anerkannte Religionsgenossenschaft er¬
langt hatten, plötzlich diese staatliche Anerkennung entzogen und ihre religiösen
Zusammenkünfte als politische Vereine erklärt. Hierdurch war nicht nur jedes
religiöse Zusammenleben für sie zu einer Unmöglichkeit geworden, indem die
Form des politischen Vereines, unter der ihnen fortzuexistiren gestattet blieb,
die Theilnahme aller Minderjährigen und Frauen an den Versammlungen
ausschloß, sondern sie verloren auch, was kaum glaublich scheint, das Recht,
eine giltige Ehe einzuhen. Der Staat betrachtete von nun an die von den
Dissidenten-Predigern vorgenommenen Trauungen als nichtig, die Ehen als
Concubinate, ohne jedoch seinerseits durch Einführung der Nothcivilehe den
Abschluß rechtsgiltiger Heirathen zu ermöglichen.

Dieser rechtlose Zustand, der den größten Theil der Dissidenten in die
Landeskirche zurücktrieb, dauerte 18 Jahre lang und ist auch gegenwärtig
noch nicht völlig beseitigt. Als Mitte der 50er Jahre mehrere Geistliche im
Kreise Schwaben und Neuburg mit einem großen Anhang aus der katholi¬
schen Kirche traten, um sich den Jrvingianern zuzuwenden, suchte die Regie¬
rung die Bildung der apostolischen Gemeinden durch polizeiliche Ausweisung
einzelner Mitglieder zu verhindern und verfuhr hierbet so brutal, daß sie
auf erhobene Beschwerde den höchsten Unwillen der Kammer erregte und den
Referenten zu der Aeußerung veranlaßte, die Staatsgewalt habe ihre poli-


In sehr bedenklicher Ausdehnung wußten sich nun Geistlichkeit und
Orden des Jugendunterrichtes zu bemächtigen. An den Gymnasien lehrten
die Benedictiner, an den Mädchen-Instituten die englischen Fräulein, an
den Elementarschulen die Schulbrüder und Schulschwestern. Der Geschichts-
unterricht an den Gymnasien wurde ausschließlich durch den betreffenden
Religionslehrer ertheilt. Die für den geistlichen Stand bestimmten Knaben
wurden von frühester Jugend an in den bischöflichen Seminarien unterge¬
bracht, ihrer Familie und dem Umgang mit anderen Kindern möglichst ent-
zogen. Auch die Studenten der Theologie hatten sich einem strengen Internat
zu unterwerfen; die freie Wahl der Collegien war ihnen versagt. Die
Krankenhäuser kamen in die Hände der barmherzigen Schwestern, die bei
aller Anerkennung ihrer Aufopferungsfähigkeit doch der Vorwurf trifft, durch
ihre Bekehrungssucht oftmals den religiösen Frieden in Bayern gestört zu
haben. Auswärtige Ordensgeistliche, namentlich Jesuiten, durchzogen aus-
spionirend das Land. Während man so der katholischen Kirche gestattete,
den ganzen Apparat auszubreiten, dessen sie sich zu bedienen pflegt, um die
Geister einzufangen und zum unbedingten Gehorsam gegen den Clerus zu
gewöhnen, verfuhr man auf der anderen Seite gegen gewisse, der Kirche un¬
bequeme Seelen mit einer barbarischen Strenge. So wurde den freien Ge¬
meinden und Deutschkatholiken, welche im Jahre 1848 durch ausdrückliches
königliches Decret die Aufnahme als anerkannte Religionsgenossenschaft er¬
langt hatten, plötzlich diese staatliche Anerkennung entzogen und ihre religiösen
Zusammenkünfte als politische Vereine erklärt. Hierdurch war nicht nur jedes
religiöse Zusammenleben für sie zu einer Unmöglichkeit geworden, indem die
Form des politischen Vereines, unter der ihnen fortzuexistiren gestattet blieb,
die Theilnahme aller Minderjährigen und Frauen an den Versammlungen
ausschloß, sondern sie verloren auch, was kaum glaublich scheint, das Recht,
eine giltige Ehe einzuhen. Der Staat betrachtete von nun an die von den
Dissidenten-Predigern vorgenommenen Trauungen als nichtig, die Ehen als
Concubinate, ohne jedoch seinerseits durch Einführung der Nothcivilehe den
Abschluß rechtsgiltiger Heirathen zu ermöglichen.

Dieser rechtlose Zustand, der den größten Theil der Dissidenten in die
Landeskirche zurücktrieb, dauerte 18 Jahre lang und ist auch gegenwärtig
noch nicht völlig beseitigt. Als Mitte der 50er Jahre mehrere Geistliche im
Kreise Schwaben und Neuburg mit einem großen Anhang aus der katholi¬
schen Kirche traten, um sich den Jrvingianern zuzuwenden, suchte die Regie¬
rung die Bildung der apostolischen Gemeinden durch polizeiliche Ausweisung
einzelner Mitglieder zu verhindern und verfuhr hierbet so brutal, daß sie
auf erhobene Beschwerde den höchsten Unwillen der Kammer erregte und den
Referenten zu der Aeußerung veranlaßte, die Staatsgewalt habe ihre poli-


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[0517] In sehr bedenklicher Ausdehnung wußten sich nun Geistlichkeit und Orden des Jugendunterrichtes zu bemächtigen. An den Gymnasien lehrten die Benedictiner, an den Mädchen-Instituten die englischen Fräulein, an den Elementarschulen die Schulbrüder und Schulschwestern. Der Geschichts- unterricht an den Gymnasien wurde ausschließlich durch den betreffenden Religionslehrer ertheilt. Die für den geistlichen Stand bestimmten Knaben wurden von frühester Jugend an in den bischöflichen Seminarien unterge¬ bracht, ihrer Familie und dem Umgang mit anderen Kindern möglichst ent- zogen. Auch die Studenten der Theologie hatten sich einem strengen Internat zu unterwerfen; die freie Wahl der Collegien war ihnen versagt. Die Krankenhäuser kamen in die Hände der barmherzigen Schwestern, die bei aller Anerkennung ihrer Aufopferungsfähigkeit doch der Vorwurf trifft, durch ihre Bekehrungssucht oftmals den religiösen Frieden in Bayern gestört zu haben. Auswärtige Ordensgeistliche, namentlich Jesuiten, durchzogen aus- spionirend das Land. Während man so der katholischen Kirche gestattete, den ganzen Apparat auszubreiten, dessen sie sich zu bedienen pflegt, um die Geister einzufangen und zum unbedingten Gehorsam gegen den Clerus zu gewöhnen, verfuhr man auf der anderen Seite gegen gewisse, der Kirche un¬ bequeme Seelen mit einer barbarischen Strenge. So wurde den freien Ge¬ meinden und Deutschkatholiken, welche im Jahre 1848 durch ausdrückliches königliches Decret die Aufnahme als anerkannte Religionsgenossenschaft er¬ langt hatten, plötzlich diese staatliche Anerkennung entzogen und ihre religiösen Zusammenkünfte als politische Vereine erklärt. Hierdurch war nicht nur jedes religiöse Zusammenleben für sie zu einer Unmöglichkeit geworden, indem die Form des politischen Vereines, unter der ihnen fortzuexistiren gestattet blieb, die Theilnahme aller Minderjährigen und Frauen an den Versammlungen ausschloß, sondern sie verloren auch, was kaum glaublich scheint, das Recht, eine giltige Ehe einzuhen. Der Staat betrachtete von nun an die von den Dissidenten-Predigern vorgenommenen Trauungen als nichtig, die Ehen als Concubinate, ohne jedoch seinerseits durch Einführung der Nothcivilehe den Abschluß rechtsgiltiger Heirathen zu ermöglichen. Dieser rechtlose Zustand, der den größten Theil der Dissidenten in die Landeskirche zurücktrieb, dauerte 18 Jahre lang und ist auch gegenwärtig noch nicht völlig beseitigt. Als Mitte der 50er Jahre mehrere Geistliche im Kreise Schwaben und Neuburg mit einem großen Anhang aus der katholi¬ schen Kirche traten, um sich den Jrvingianern zuzuwenden, suchte die Regie¬ rung die Bildung der apostolischen Gemeinden durch polizeiliche Ausweisung einzelner Mitglieder zu verhindern und verfuhr hierbet so brutal, daß sie auf erhobene Beschwerde den höchsten Unwillen der Kammer erregte und den Referenten zu der Aeußerung veranlaßte, die Staatsgewalt habe ihre poli-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/517>, abgerufen am 01.09.2024.