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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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geärgert durch das Hausbackene höherer Weiblichkeit in seiner Heimath quälte
er sich, Pariser Cocotten und Gräfinnen mit ganz unbegreiflichen und sehr
verzwickten Gefühlen zu erdenken.

Da kamen die Pickwickier in das Land. Man muß jene Zeit in gebil¬
deten bürgerlichen Familien durchlebt haben, um die schöne Wirkung zu be¬
greifen, welche das Buch auf Männer und Frauen ausübte. Die fröhliche
Auffassung des Lebens, das unendliche Behagen, der wackere Sinn, welcher
hinter der drolligen Art hervorleuchtete, waren dem Deutschen damals so
rührend, wie dem Wandrer in der Fremde eine Melodie aus dem Vaterhause,
die unerwartet in sein Ohr tönt. Und Alles war modernes Leben, im Grunde
alltägliche Wirklichkeit und die eigene Weise zu empfinden, nur verklärt durch
das liebevolle Gemüth eines ächten Dichters. Hunderttausenden gab das
Buch frohe Stunden, gehobene Stimmung, überall setzte es in die Einför¬
migkeit der Werkeltage bunte Lichter. Jeder bekannte ältliche Herr mit einem
Bäuchlein wurde von den Frauen des Hauses als Herr Pickwick aufgefaßt,
sogar dem ausgewetterten Droschkenkutscher kam bei Rückgabe kleiner Münze
zu Gute, daß man sich ihn als Vater eines Sam Weller dachte, knorrig doch
treuherzig. Und wie oft wurde die Freude über das Buch im Wechselge¬
spräch ausgetauscht. Ernste Geschäftsmänner, welche sich sonst um Romane
wenig kümmerten, vergaßen über der Dichtung die Nachtruhe und fochten mit
Feuer für die Schönheiten des Werkes, junge Damen und Herren fanden
in der Freude über die Charaktere des Romans einander sehr liebenswerth,
und wenn Boz alle Kuppelpelzlein hätte auftragen müssen, die er sich damals
in Deutschland verdient, er wäre bis an sein Lebensende einhergewandelt
rauh und vermummt wie ein Eskimo.

Diese Wirkung des ersten Werkes, das den Deutschen übertragen wurde,
hielt an, und sie wurde fast durch jeden der späteren Romane bis zu "David
Copperfield" gesteigert. In jedem fand der Leser einen oder mehrere Charak¬
tere, die ihm Menschennatur liebenswerth und ehrwürdig machten, und in
jedem einige gewaltige Schilderungen von Schuld und Strafe, von mensch¬
lichen Thorheiten und Lastern, von dem innern Verderb, den diese in den
Seelen hervorbringen und von der gerechten Vergeltung, welche durch die
Missethat selbst in die Verbrecher geführt wird. Ueberall kündeten seine Bücher,
daß eine ewige Vernunft und Weisheit in den Schicksalen der Menschen sichtbar
wird, und daß der Einzelne nicht nur unter den eigenen Fehlern, auch unter
der Verbildung seines Volkes krankt. Und das war nicht trockene Lehre, son¬
dern nur stiller Hintergrund einer Erfindung, die an lustigen Situationen,
drolligen Käuzen und spannenden Momenten fast überreich ist. Fast aus
jedem Roman blieben rührende oder lebensfrische Gestalten fest in der Seele
des Lesers, welche ihm unmerklich selbst die innige Auffassung alles Lebenden,


geärgert durch das Hausbackene höherer Weiblichkeit in seiner Heimath quälte
er sich, Pariser Cocotten und Gräfinnen mit ganz unbegreiflichen und sehr
verzwickten Gefühlen zu erdenken.

Da kamen die Pickwickier in das Land. Man muß jene Zeit in gebil¬
deten bürgerlichen Familien durchlebt haben, um die schöne Wirkung zu be¬
greifen, welche das Buch auf Männer und Frauen ausübte. Die fröhliche
Auffassung des Lebens, das unendliche Behagen, der wackere Sinn, welcher
hinter der drolligen Art hervorleuchtete, waren dem Deutschen damals so
rührend, wie dem Wandrer in der Fremde eine Melodie aus dem Vaterhause,
die unerwartet in sein Ohr tönt. Und Alles war modernes Leben, im Grunde
alltägliche Wirklichkeit und die eigene Weise zu empfinden, nur verklärt durch
das liebevolle Gemüth eines ächten Dichters. Hunderttausenden gab das
Buch frohe Stunden, gehobene Stimmung, überall setzte es in die Einför¬
migkeit der Werkeltage bunte Lichter. Jeder bekannte ältliche Herr mit einem
Bäuchlein wurde von den Frauen des Hauses als Herr Pickwick aufgefaßt,
sogar dem ausgewetterten Droschkenkutscher kam bei Rückgabe kleiner Münze
zu Gute, daß man sich ihn als Vater eines Sam Weller dachte, knorrig doch
treuherzig. Und wie oft wurde die Freude über das Buch im Wechselge¬
spräch ausgetauscht. Ernste Geschäftsmänner, welche sich sonst um Romane
wenig kümmerten, vergaßen über der Dichtung die Nachtruhe und fochten mit
Feuer für die Schönheiten des Werkes, junge Damen und Herren fanden
in der Freude über die Charaktere des Romans einander sehr liebenswerth,
und wenn Boz alle Kuppelpelzlein hätte auftragen müssen, die er sich damals
in Deutschland verdient, er wäre bis an sein Lebensende einhergewandelt
rauh und vermummt wie ein Eskimo.

Diese Wirkung des ersten Werkes, das den Deutschen übertragen wurde,
hielt an, und sie wurde fast durch jeden der späteren Romane bis zu „David
Copperfield" gesteigert. In jedem fand der Leser einen oder mehrere Charak¬
tere, die ihm Menschennatur liebenswerth und ehrwürdig machten, und in
jedem einige gewaltige Schilderungen von Schuld und Strafe, von mensch¬
lichen Thorheiten und Lastern, von dem innern Verderb, den diese in den
Seelen hervorbringen und von der gerechten Vergeltung, welche durch die
Missethat selbst in die Verbrecher geführt wird. Ueberall kündeten seine Bücher,
daß eine ewige Vernunft und Weisheit in den Schicksalen der Menschen sichtbar
wird, und daß der Einzelne nicht nur unter den eigenen Fehlern, auch unter
der Verbildung seines Volkes krankt. Und das war nicht trockene Lehre, son¬
dern nur stiller Hintergrund einer Erfindung, die an lustigen Situationen,
drolligen Käuzen und spannenden Momenten fast überreich ist. Fast aus
jedem Roman blieben rührende oder lebensfrische Gestalten fest in der Seele
des Lesers, welche ihm unmerklich selbst die innige Auffassung alles Lebenden,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/488>, abgerufen am 18.12.2024.