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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Mit Ser. D? beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im Zum 1870.Die Verlagshandlung.

Ein Dank für Charles Dickens.

In der Westminsterabtei ist die Hülle des Dichters beigesetzt, der so
reichlich und tief aus seine Zeitgenossen gewirkt hat, wie wenige; und die
Todtenklage in der Presse Englands rühmt mit Recht, daß der Gestorbene
Millionen das Herz gerührt, das Leben schöner gemacht habe. Er war
uns Deutschen kaum weniger vertraut, als seinen Landsleuten, er war auch
uns ein guter Freund, zuweilen ein liebevoller Erzieher.

Ja er hat in mancher Hinsicht uns mehr gegeben, als den Engländern.
Denn dort ist die Literatur, welche Charaktere und geheimstes Empfinden
der Menschen darzustellen weiß, ungleich älter und reicher an volkstümlichen
Talenten. Wir entbehren aus den Jahrhunderten von Shakespeare bis
Addison völlig die entsprechenden Dichterkräfte, und selbst die edle Kunst
Goethe's und Schiller's gab der deutschen Schriftsprache nicht sofort den
Reichthum an Farben und dem schildernden Stil nicht die behagliche Fülle,
welche für die künstlerische Behandlung modernen Lebens unentbehrlich sind.

Es war in Deutschland um 1837, wo Boz zuerst unter uns bekannt wurde,
eine Zeit frostigen Mißbehagens. Das Volk saß noch in der alten Getheilt-
heit, in engem Hause, und arbeitete sich langsam zu größerem Wohlstand her¬
auf; es merkte ein wenig die größere Freiheit des Binnenverkehrs, die neue
Dampfkraft an Landstraßen und Fabriken, aber es bildete über den Grund¬
lagen seiner Kraft und Größe noch ohne jedes Selbstvertrauen. Die Ge¬
fühle des Hauses waren stark, die Charakterbildung durch den Staat sehr
schwächlich. Das junge Geschlecht hatte nichts, was ihm Begeisterung und
Hingabe leicht machte, und gebehrdete sich deshalb widerwärtig, krittlich, revo¬
lutionär. Die heimische ästhetische Literatur, diese zarteste Blüthe des Volks-
lebens. siechte an demselben Mangel von Wärme. Das letzte Geschlecht
deutscher Lyriker zwischen verblaßter Romantik und unreifen politischen Wün¬
schen fand reizvoll in sein inniges Lied neue Mißtöne zu mischen; wer von den
Jüngern die Zeit schilderte, stand in sclavischer Abhängigkeit von französischem
Wesen, das er ungeschickt nachahmte; statt zu plaudern schrieb er Klatsch und


Grenzboten II. 1870, 61

Mit Ser. D? beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal,
welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬
ziehen ist.
Leipzig, im Zum 1870.Die Verlagshandlung.

Ein Dank für Charles Dickens.

In der Westminsterabtei ist die Hülle des Dichters beigesetzt, der so
reichlich und tief aus seine Zeitgenossen gewirkt hat, wie wenige; und die
Todtenklage in der Presse Englands rühmt mit Recht, daß der Gestorbene
Millionen das Herz gerührt, das Leben schöner gemacht habe. Er war
uns Deutschen kaum weniger vertraut, als seinen Landsleuten, er war auch
uns ein guter Freund, zuweilen ein liebevoller Erzieher.

Ja er hat in mancher Hinsicht uns mehr gegeben, als den Engländern.
Denn dort ist die Literatur, welche Charaktere und geheimstes Empfinden
der Menschen darzustellen weiß, ungleich älter und reicher an volkstümlichen
Talenten. Wir entbehren aus den Jahrhunderten von Shakespeare bis
Addison völlig die entsprechenden Dichterkräfte, und selbst die edle Kunst
Goethe's und Schiller's gab der deutschen Schriftsprache nicht sofort den
Reichthum an Farben und dem schildernden Stil nicht die behagliche Fülle,
welche für die künstlerische Behandlung modernen Lebens unentbehrlich sind.

Es war in Deutschland um 1837, wo Boz zuerst unter uns bekannt wurde,
eine Zeit frostigen Mißbehagens. Das Volk saß noch in der alten Getheilt-
heit, in engem Hause, und arbeitete sich langsam zu größerem Wohlstand her¬
auf; es merkte ein wenig die größere Freiheit des Binnenverkehrs, die neue
Dampfkraft an Landstraßen und Fabriken, aber es bildete über den Grund¬
lagen seiner Kraft und Größe noch ohne jedes Selbstvertrauen. Die Ge¬
fühle des Hauses waren stark, die Charakterbildung durch den Staat sehr
schwächlich. Das junge Geschlecht hatte nichts, was ihm Begeisterung und
Hingabe leicht machte, und gebehrdete sich deshalb widerwärtig, krittlich, revo¬
lutionär. Die heimische ästhetische Literatur, diese zarteste Blüthe des Volks-
lebens. siechte an demselben Mangel von Wärme. Das letzte Geschlecht
deutscher Lyriker zwischen verblaßter Romantik und unreifen politischen Wün¬
schen fand reizvoll in sein inniges Lied neue Mißtöne zu mischen; wer von den
Jüngern die Zeit schilderte, stand in sclavischer Abhängigkeit von französischem
Wesen, das er ungeschickt nachahmte; statt zu plaudern schrieb er Klatsch und


Grenzboten II. 1870, 61
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[0487] Mit Ser. D? beginnt diese Zeitschrift ein neues Quartal, welches durch alle Buchhandlungen und Postämter zu be¬ ziehen ist. Leipzig, im Zum 1870.Die Verlagshandlung. Ein Dank für Charles Dickens. In der Westminsterabtei ist die Hülle des Dichters beigesetzt, der so reichlich und tief aus seine Zeitgenossen gewirkt hat, wie wenige; und die Todtenklage in der Presse Englands rühmt mit Recht, daß der Gestorbene Millionen das Herz gerührt, das Leben schöner gemacht habe. Er war uns Deutschen kaum weniger vertraut, als seinen Landsleuten, er war auch uns ein guter Freund, zuweilen ein liebevoller Erzieher. Ja er hat in mancher Hinsicht uns mehr gegeben, als den Engländern. Denn dort ist die Literatur, welche Charaktere und geheimstes Empfinden der Menschen darzustellen weiß, ungleich älter und reicher an volkstümlichen Talenten. Wir entbehren aus den Jahrhunderten von Shakespeare bis Addison völlig die entsprechenden Dichterkräfte, und selbst die edle Kunst Goethe's und Schiller's gab der deutschen Schriftsprache nicht sofort den Reichthum an Farben und dem schildernden Stil nicht die behagliche Fülle, welche für die künstlerische Behandlung modernen Lebens unentbehrlich sind. Es war in Deutschland um 1837, wo Boz zuerst unter uns bekannt wurde, eine Zeit frostigen Mißbehagens. Das Volk saß noch in der alten Getheilt- heit, in engem Hause, und arbeitete sich langsam zu größerem Wohlstand her¬ auf; es merkte ein wenig die größere Freiheit des Binnenverkehrs, die neue Dampfkraft an Landstraßen und Fabriken, aber es bildete über den Grund¬ lagen seiner Kraft und Größe noch ohne jedes Selbstvertrauen. Die Ge¬ fühle des Hauses waren stark, die Charakterbildung durch den Staat sehr schwächlich. Das junge Geschlecht hatte nichts, was ihm Begeisterung und Hingabe leicht machte, und gebehrdete sich deshalb widerwärtig, krittlich, revo¬ lutionär. Die heimische ästhetische Literatur, diese zarteste Blüthe des Volks- lebens. siechte an demselben Mangel von Wärme. Das letzte Geschlecht deutscher Lyriker zwischen verblaßter Romantik und unreifen politischen Wün¬ schen fand reizvoll in sein inniges Lied neue Mißtöne zu mischen; wer von den Jüngern die Zeit schilderte, stand in sclavischer Abhängigkeit von französischem Wesen, das er ungeschickt nachahmte; statt zu plaudern schrieb er Klatsch und Grenzboten II. 1870, 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/487>, abgerufen am 27.07.2024.