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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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und selbst ein so großes Talent wie Riehl ist nicht sauber ein anmuthiges
und geistvolles Dilettiren hinaus geschritten. Ein anderer Standpunkt ist
der des auteur- und sittengeschichtlichen Forschers, mit mehr oder minder Bei-
schmack archäologisirender Romantik. Auch dieser ist, wie man weiß, durch
eine beinahe schon unübersehbare Thätigkeit im Sammeln der volkstümlichen
Ueberlieferungen aller Art genügend vertreten.

Dagegen gebricht es an systematischen, zunächst nur auf den Bestand der
Gegenwart gerichteten Schilderungen der Hieher einschlagenden Lebenser-
scheinungen auf deutschem Boden. Auch sie würden für das größte practische
Bedürfniß der Gegenwart, für die Arbeit in dem deutschen Staate, von sehr
großem Werthe sein. Sie würden zur Erkenntniß dessen führen, was man
mit einem heute völlig eingebürgerten Ausdrucke, der noch vor wenigen
Jahren spöttisch verlacht werden konnte, die Volksseele zu nennen pflegt.
Daß man aber sie kennen muß oder müßte, wenn man mit ihr und auf sie
wirken will, gibt Jedermann zu, ohne daran zu denken, daß er selbst in
jedem Augenblick gegen diese seine Einsicht handelt. --

In diesem Bereiche würde denn auch das sprachliche Moment, die Volks¬
mundart, ihre Stätte finden, und ungefähr in der Weise, nur systematischer
und vollständiger, als es Herr Schatzmayer versucht hat, als Spiegelbild des
Volksgeistes verwandt werden müssen. Mit ihr vieles andere, was bis jetzt
nur ein ästhetisches oder archäologisches Interesse erregt hat. der Volksglaube.
Volkssage, Volkspoesie :c. freilich von ganz anderen Gesichtspunkten aus ge¬
faßt, und zu ganz anderen Zwecken, als es bis jetzt geschehen ist. Es käme
darauf ein, nicht sowohl die verklingenden Reste der Vorzeit, die selbst kein
wahres Leben mehr führen, sorgfältig zu conserviren -- für wissenschaftliche
Zwecke sind gerade diese das eigentlich werthvolle -- als das herauszugreifen,
was noch wirklich lebensfähig ist und eben darum die Signatur der wirk¬
lichen Volksseele bildet, mit welcher der practische Mann, der Politiker, der
Staatswirth, der Industrielle, der Pädagog zu operiren hat.

Es gibt ein in deutscher Sprache geschriebenes Werk, welches in seiner
Anlage und Schematisirung ungefähr dem entspricht, was wir als nicht vor¬
handen stark vermissen. Wir meinen die bekannte "Bavaria". bayrische
Landeskunde unter den Auspicien des Königs Max II., wesentlich aber unter
Richts Einfluß von einem Kreise "bayrischer Gelehrten" bearbeitet. Die
Ausführung dieses, wie man weiß, sehr bändereichen Werkes entspricht aber
seinen Intentionen in keiner Weise, darüber haben wir uns unmittelbar nach
seiner Beendigung in diesen Blättern ausgesprochen. Doch könnte man sei¬
nen Schematismus für jede derartige Arbeit, sie sei nun für einen einzelnen
Theil Deutschlands oder, woran uns alles gelegen scheint, für ganz Deutsch-


Grenzbotm II. 1870. 65
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und selbst ein so großes Talent wie Riehl ist nicht sauber ein anmuthiges
und geistvolles Dilettiren hinaus geschritten. Ein anderer Standpunkt ist
der des auteur- und sittengeschichtlichen Forschers, mit mehr oder minder Bei-
schmack archäologisirender Romantik. Auch dieser ist, wie man weiß, durch
eine beinahe schon unübersehbare Thätigkeit im Sammeln der volkstümlichen
Ueberlieferungen aller Art genügend vertreten.

Dagegen gebricht es an systematischen, zunächst nur auf den Bestand der
Gegenwart gerichteten Schilderungen der Hieher einschlagenden Lebenser-
scheinungen auf deutschem Boden. Auch sie würden für das größte practische
Bedürfniß der Gegenwart, für die Arbeit in dem deutschen Staate, von sehr
großem Werthe sein. Sie würden zur Erkenntniß dessen führen, was man
mit einem heute völlig eingebürgerten Ausdrucke, der noch vor wenigen
Jahren spöttisch verlacht werden konnte, die Volksseele zu nennen pflegt.
Daß man aber sie kennen muß oder müßte, wenn man mit ihr und auf sie
wirken will, gibt Jedermann zu, ohne daran zu denken, daß er selbst in
jedem Augenblick gegen diese seine Einsicht handelt. —

In diesem Bereiche würde denn auch das sprachliche Moment, die Volks¬
mundart, ihre Stätte finden, und ungefähr in der Weise, nur systematischer
und vollständiger, als es Herr Schatzmayer versucht hat, als Spiegelbild des
Volksgeistes verwandt werden müssen. Mit ihr vieles andere, was bis jetzt
nur ein ästhetisches oder archäologisches Interesse erregt hat. der Volksglaube.
Volkssage, Volkspoesie :c. freilich von ganz anderen Gesichtspunkten aus ge¬
faßt, und zu ganz anderen Zwecken, als es bis jetzt geschehen ist. Es käme
darauf ein, nicht sowohl die verklingenden Reste der Vorzeit, die selbst kein
wahres Leben mehr führen, sorgfältig zu conserviren — für wissenschaftliche
Zwecke sind gerade diese das eigentlich werthvolle — als das herauszugreifen,
was noch wirklich lebensfähig ist und eben darum die Signatur der wirk¬
lichen Volksseele bildet, mit welcher der practische Mann, der Politiker, der
Staatswirth, der Industrielle, der Pädagog zu operiren hat.

Es gibt ein in deutscher Sprache geschriebenes Werk, welches in seiner
Anlage und Schematisirung ungefähr dem entspricht, was wir als nicht vor¬
handen stark vermissen. Wir meinen die bekannte „Bavaria". bayrische
Landeskunde unter den Auspicien des Königs Max II., wesentlich aber unter
Richts Einfluß von einem Kreise „bayrischer Gelehrten" bearbeitet. Die
Ausführung dieses, wie man weiß, sehr bändereichen Werkes entspricht aber
seinen Intentionen in keiner Weise, darüber haben wir uns unmittelbar nach
seiner Beendigung in diesen Blättern ausgesprochen. Doch könnte man sei¬
nen Schematismus für jede derartige Arbeit, sie sei nun für einen einzelnen
Theil Deutschlands oder, woran uns alles gelegen scheint, für ganz Deutsch-


Grenzbotm II. 1870. 65
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/439>, abgerufen am 27.07.2024.