Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.Kategorien beinahe vollständig unbeachtet gelassen und stellen wenigstens in Von solchen Darstellungen gleiten wir der Natur der Sache nach ganz Kategorien beinahe vollständig unbeachtet gelassen und stellen wenigstens in Von solchen Darstellungen gleiten wir der Natur der Sache nach ganz <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0438" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124058"/> <p xml:id="ID_1311" prev="#ID_1310"> Kategorien beinahe vollständig unbeachtet gelassen und stellen wenigstens in<lb/> dieser einen Hinsicht eine negative Gemeinsamkeit ihres Wesens dar. Die<lb/> Bewegung der deutschen Seeschiffahrt und des Binnenverkehrs könnte man<lb/> aus dem vorliegenden statistischen Material ungefähr darstellen, desgleichen<lb/> die meisten Zweige der Industrie und der Fabrikation, aber schon nicht mehr<lb/> obgleich dies bei einer zu ^/z ackerbaubetreibenden Bevölkerung seltsam genug<lb/> ist, die Agriculturverhältnisse, kaum die jährlichen Ernteerträgnisse, an denen<lb/> doch allein noch sehr wenig zu lernen ist, fast gar nicht alles, was sich aus<lb/> die Methode des Wirthschaftsbetriebes!, auf die Zustände der dabei thätigen<lb/> Menschen bezieht. Ueberhaupt ist gerade dieser wichtigste Zweig der Statistik,<lb/> wobei man freilich nicht mit bloßen Zahlentabellen operiren kann, am meisten<lb/> vernachlässigt. Wer hat z. B. eine ganz genaue Kenntniß oder vielmehr,<lb/> wer kann sich eine solche erwerben, von der Höhe des ländlichen Tagelohns<lb/> in den verschiedenen Theilen Deutschlands, von der körperlichen Leistungskraft<lb/> dieser Leute, von der Beschaffenheit ihrer Wohnungen, ihrer Kost, kurz ihrer<lb/> ganzen Zustände, aus denen wieder allein die Ansprüche, die man an ihre<lb/> Arbeit stellt, abgeleitet und begründet werden können. Es ist wirklich schwer<lb/> zu begreifen, wie man sich in unserm lieben Deutschland bisher ohne alle<lb/> solche unentbehrlichen Artikel, auf der Tribüne und in der Tagespresse immer<lb/> mit Hunderten von Fragen beschäftigen mag, für welche es mit dem bloßen<lb/> gesunden Menschenverstande, oder mit irgend einem allgemeinen national-<lb/> ökonomischen Satze gar keine Lösung gibt, die man nur discutiren kann,<lb/> wenn man ein Heer von Thatsachen und Zahlen weiß oder bereit vor sich<lb/> liegen hat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1312" next="#ID_1313"> Von solchen Darstellungen gleiten wir der Natur der Sache nach ganz<lb/> unmerklich über zu dem schon mehr der inneren Culturstatistik angehörigen<lb/> Gebiete, wofür es an einer passenden allumfassenden Bezeichnung fehlt. Wenn<lb/> man von der Eigenart des Volkes spricht, wie man neuerdings häufig thut,<lb/> so meint man ungefähr das, was wir im Auge haben. Das Volk wird hier<lb/> nicht mehr bloß als ein Apparat von Arbeitskräften aufgefaßt — selbstver¬<lb/> ständlich bedeutet der Begriff Arbeitskraft nicht bloß die physische Ausstattung,<lb/> den Procentsatz an Muskeln, Fleisch und Knochen, sondern auch den ganzw<lb/> Besitz an intellektuellen und Bildungsmitteln, mit denen gearbeitet wird ^<lb/> sondern es kommt sein eigentliches Gemüths- und Seelenleben zu vorwiegen¬<lb/> der Geltung. Dies kann von sehr verschiedenem Standpunkt aus geschehen-<lb/> Bei uns ist der ästhetisirend-dilettantische, der in den Dorfgeschichten seine<lb/> äußerste Spitze trieb, der beliebteste gewesen und ist es eigentlich auch jetzt<lb/> noch, weil er am wenigsten Mühe für den Producenten und Consumenten<lb/> macht. Im Grunde gehört auch die ganze sog. Socialpolitik, die sich einst<lb/> mit großer Emphase als die eigentliche Zukunstswissenschaft gerirte. Hieher</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0438]
Kategorien beinahe vollständig unbeachtet gelassen und stellen wenigstens in
dieser einen Hinsicht eine negative Gemeinsamkeit ihres Wesens dar. Die
Bewegung der deutschen Seeschiffahrt und des Binnenverkehrs könnte man
aus dem vorliegenden statistischen Material ungefähr darstellen, desgleichen
die meisten Zweige der Industrie und der Fabrikation, aber schon nicht mehr
obgleich dies bei einer zu ^/z ackerbaubetreibenden Bevölkerung seltsam genug
ist, die Agriculturverhältnisse, kaum die jährlichen Ernteerträgnisse, an denen
doch allein noch sehr wenig zu lernen ist, fast gar nicht alles, was sich aus
die Methode des Wirthschaftsbetriebes!, auf die Zustände der dabei thätigen
Menschen bezieht. Ueberhaupt ist gerade dieser wichtigste Zweig der Statistik,
wobei man freilich nicht mit bloßen Zahlentabellen operiren kann, am meisten
vernachlässigt. Wer hat z. B. eine ganz genaue Kenntniß oder vielmehr,
wer kann sich eine solche erwerben, von der Höhe des ländlichen Tagelohns
in den verschiedenen Theilen Deutschlands, von der körperlichen Leistungskraft
dieser Leute, von der Beschaffenheit ihrer Wohnungen, ihrer Kost, kurz ihrer
ganzen Zustände, aus denen wieder allein die Ansprüche, die man an ihre
Arbeit stellt, abgeleitet und begründet werden können. Es ist wirklich schwer
zu begreifen, wie man sich in unserm lieben Deutschland bisher ohne alle
solche unentbehrlichen Artikel, auf der Tribüne und in der Tagespresse immer
mit Hunderten von Fragen beschäftigen mag, für welche es mit dem bloßen
gesunden Menschenverstande, oder mit irgend einem allgemeinen national-
ökonomischen Satze gar keine Lösung gibt, die man nur discutiren kann,
wenn man ein Heer von Thatsachen und Zahlen weiß oder bereit vor sich
liegen hat.
Von solchen Darstellungen gleiten wir der Natur der Sache nach ganz
unmerklich über zu dem schon mehr der inneren Culturstatistik angehörigen
Gebiete, wofür es an einer passenden allumfassenden Bezeichnung fehlt. Wenn
man von der Eigenart des Volkes spricht, wie man neuerdings häufig thut,
so meint man ungefähr das, was wir im Auge haben. Das Volk wird hier
nicht mehr bloß als ein Apparat von Arbeitskräften aufgefaßt — selbstver¬
ständlich bedeutet der Begriff Arbeitskraft nicht bloß die physische Ausstattung,
den Procentsatz an Muskeln, Fleisch und Knochen, sondern auch den ganzw
Besitz an intellektuellen und Bildungsmitteln, mit denen gearbeitet wird ^
sondern es kommt sein eigentliches Gemüths- und Seelenleben zu vorwiegen¬
der Geltung. Dies kann von sehr verschiedenem Standpunkt aus geschehen-
Bei uns ist der ästhetisirend-dilettantische, der in den Dorfgeschichten seine
äußerste Spitze trieb, der beliebteste gewesen und ist es eigentlich auch jetzt
noch, weil er am wenigsten Mühe für den Producenten und Consumenten
macht. Im Grunde gehört auch die ganze sog. Socialpolitik, die sich einst
mit großer Emphase als die eigentliche Zukunstswissenschaft gerirte. Hieher
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