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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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Schrift in zwei weiteren Abschnitten, über die Bildung und die Befugnisse
der Volksvertretung" in sehr beachtenswerther Weise verbreitet. Es würde
zu weit über die Grenzen unserer Besprechung hinausführen, wollte ich auch
nur eine oberflächliche Analyse der vortrefflich motivirten Reformvorschläge
des Verfassers versuchen. Nur Einiges davon sei angemerkt. Das Herren¬
haus -- der Verfasser zweifelt nicht an der Nothwendigkeit des Zweikammer¬
systems -- soll in der Richtung umgestaltet werden, daß der Kleinadel sein bis¬
heriges Uebergewicht einbüßt, dafür die reformirten Provinzialstände etwa
die Hälfte der Mitglieder dieses Hauses wählen, und die andere Hälfte sich
aus einer geringen Zahl lebenslänglicher Pairs und Vertreter der Univer¬
sitäten, überwiegend aber aus den erblichen Häuptern der Familien des hohen
mit wirklich großem Grundbesitz begüterten Adels zusammensetzt. Wir be¬
gegnen hier den denkwürdigen Ideen Torquevilles über die Bedeutung der
Aristokratie für die Volksfreiheit, wenn der Verfasser ausruft: "Die große
Gefahr unserer Tage ist der überhandnehmende Zug zum Imperialismus,
welcher den Schein und die Form der Freiheit gibt, aber das Wesen der¬
selben zu Gunsten des persönlichen Regiments absorbirt! Die Demokratie
hat sich ohnmächtig gezeigt, diesem Zuge zu widerstehen, ja sie hat ihm viel¬
fach gehuldigt, um nur das Trugbild der Gleichheit zu retten. Es ist die
Aufgabe der aristokratischen Elemente, d. h. derjenigen Factoren der Nation,
deren Bedeutung nicht auf der Zahl, sondern der Individualität beruht,
jener verderblichen Richtung entgegenzutreten." Eine Aristokratie läßt sich
gewiß nicht improvisiren, noch, wo sie einmal zerstört ist, wiederherstellen;
wo aber, wie in Deutschland, die Grundlagen dafür noch vorhanden sind,
müssen sie erhalten und verwerthet werden, wollen wir nicht dem Regiments
der Bureaukratie, des Säbels und des Geldes verfallen. -- Für die
Bildung des Volkshauses verwirft der Verfasser sowohl das allgemeine
directe Wahlrecht, wie die indirekten Wahlen nach bisherigem preußi¬
schen System, und wie den activen Census und die Interessen- oder Be¬
rufsclassen-Vertretung. Das örtliche Gemeindewahlrecht soll die
ausschließliche Grundlage für die active Wahlqualification zum Parla¬
mente abgeben. Für die Wählbarkeit genügt die Diätenlosigkeit und die Aus¬
schließung der eigentlichen Staatsbeamten und activen Militärs. Wie gern
wünschte ich hier den Verfasser als praktischen Reformer zu wissen, der nur
practtsch Erreichbares anstrebt! Das eben ist ja das große Problem
deutscher Repräsentativverfassung, daß sie bisher grundsätzlich nicht, wie die
englische in ihrer historischen Entwickelung sich langsam aufgebaut hat auf
der Gemeindevertretung, sondern in raschem, gewaltsamen Anlauf die demo¬
kratischen Ideen der Souveränetät des Volks, des einheitlichen, gleicharti¬
gen Volkskörpers und solcher Volksvertretung zu verwirklichen gewillt


Schrift in zwei weiteren Abschnitten, über die Bildung und die Befugnisse
der Volksvertretung" in sehr beachtenswerther Weise verbreitet. Es würde
zu weit über die Grenzen unserer Besprechung hinausführen, wollte ich auch
nur eine oberflächliche Analyse der vortrefflich motivirten Reformvorschläge
des Verfassers versuchen. Nur Einiges davon sei angemerkt. Das Herren¬
haus — der Verfasser zweifelt nicht an der Nothwendigkeit des Zweikammer¬
systems — soll in der Richtung umgestaltet werden, daß der Kleinadel sein bis¬
heriges Uebergewicht einbüßt, dafür die reformirten Provinzialstände etwa
die Hälfte der Mitglieder dieses Hauses wählen, und die andere Hälfte sich
aus einer geringen Zahl lebenslänglicher Pairs und Vertreter der Univer¬
sitäten, überwiegend aber aus den erblichen Häuptern der Familien des hohen
mit wirklich großem Grundbesitz begüterten Adels zusammensetzt. Wir be¬
gegnen hier den denkwürdigen Ideen Torquevilles über die Bedeutung der
Aristokratie für die Volksfreiheit, wenn der Verfasser ausruft: „Die große
Gefahr unserer Tage ist der überhandnehmende Zug zum Imperialismus,
welcher den Schein und die Form der Freiheit gibt, aber das Wesen der¬
selben zu Gunsten des persönlichen Regiments absorbirt! Die Demokratie
hat sich ohnmächtig gezeigt, diesem Zuge zu widerstehen, ja sie hat ihm viel¬
fach gehuldigt, um nur das Trugbild der Gleichheit zu retten. Es ist die
Aufgabe der aristokratischen Elemente, d. h. derjenigen Factoren der Nation,
deren Bedeutung nicht auf der Zahl, sondern der Individualität beruht,
jener verderblichen Richtung entgegenzutreten." Eine Aristokratie läßt sich
gewiß nicht improvisiren, noch, wo sie einmal zerstört ist, wiederherstellen;
wo aber, wie in Deutschland, die Grundlagen dafür noch vorhanden sind,
müssen sie erhalten und verwerthet werden, wollen wir nicht dem Regiments
der Bureaukratie, des Säbels und des Geldes verfallen. — Für die
Bildung des Volkshauses verwirft der Verfasser sowohl das allgemeine
directe Wahlrecht, wie die indirekten Wahlen nach bisherigem preußi¬
schen System, und wie den activen Census und die Interessen- oder Be¬
rufsclassen-Vertretung. Das örtliche Gemeindewahlrecht soll die
ausschließliche Grundlage für die active Wahlqualification zum Parla¬
mente abgeben. Für die Wählbarkeit genügt die Diätenlosigkeit und die Aus¬
schließung der eigentlichen Staatsbeamten und activen Militärs. Wie gern
wünschte ich hier den Verfasser als praktischen Reformer zu wissen, der nur
practtsch Erreichbares anstrebt! Das eben ist ja das große Problem
deutscher Repräsentativverfassung, daß sie bisher grundsätzlich nicht, wie die
englische in ihrer historischen Entwickelung sich langsam aufgebaut hat auf
der Gemeindevertretung, sondern in raschem, gewaltsamen Anlauf die demo¬
kratischen Ideen der Souveränetät des Volks, des einheitlichen, gleicharti¬
gen Volkskörpers und solcher Volksvertretung zu verwirklichen gewillt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/420>, abgerufen am 27.07.2024.