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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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dem Schlußeffekt, der am 20. März in der Stuttgarter Liederhalle veranstaltet
wurde, erwarten sollte. Die Proklamation an das würtenbergische Volk,
welche heute das Landescomite' der Volkspartei erläßt, -- es ist eigentlich die
Abschiedsproclamation einer gestürzten Regierung -- wird daran nichts
ändern. Daß die Bewegung in der That eine "künstlich" gemachte war,
wie die Ansprache der deutschen Partei vom 8. Februar sagte, hat sich doch
von Tag zu Tag mehr herausgestellt. Haben auch die Agitatoren überall
auf den Dörfern begreiflichen Anklang gefunden mit ihren Vorspiegelungen,
daß es hinfort keine Soldaten und keine Steuern mehr geben solle, so war
doch in den Städten, nicht blos in der Hauptstadt, die Theilnahme eine kühle
geblieben, und der Rückschlag aus den Kreisen des conservativen Bürger,
thums hätte sich ohne Zweifel noch stärker geltend gemacht, wenn man nicht
an der Regierung völlig irre geworden wäre, obwohl es jetzt nachträglich
kaum wird bedauert werden können, daß man der Bewegung bis zu ihrer
Schlußcomödie völlig ungehemmten Lauf verstattete.

Die Lage der Patrioten ist um so verdrießlicher, als der vor den Land¬
tag gebrachten Beschwerde der 46 von Seiten der Regierung entsprochen
wurde, noch bevor der Antrag zum Beschluß erhoben war. In den Volks¬
versammlungen war freilich von Umsturz des Kriegsdienstgesetzes, Abschaffung
der stehenden Heere, Einführung des Milizsystems, Zerreißung der Ver¬
träge u. s. w. die Rede gewesen, aber auf parlamentarischem Boden schrumpf¬
ten diese kühnen Forderungen zu der weinerlichen Bitte um möglichste Spar¬
samkeit zusammen. Hier hatten die "Großdeutschen" es verstanden, sich der
von der Volkspartet eingeleiteten Bewegung zu bemächtigen, die in der Hand
von begehrlichen Ministercandidaten rasch ein sanfteres Gepräge annahm, und
auch die Volkspartei ließ sich zur Avschwächung ihrer Forderungen herbei, damit
in der Kammer eine Mehrheit und durch diese ein "rein großdeutsches" Ministe¬
rium zu Stande käme. Jetzt sind die Früchte jener lärmenden Agitation, wie
dieser feineren Taktik verloren. Klüger als die Volkspartei waren die Ultra"
mondänen gewesen, aber klüger als diese das Ministerium, welches sie rasch
beim Wort nahm.

Welche Maßregeln nun Herr v. Succow treffen wird, um Ersparnisse
im Betrag von einer halben Million vorzunehmen und doch gleichzeitig das
Heer im bisherigen Stand der Tüchtigkeit zu erhalten, bleibt abzuwarten.
Ohne eine wettere Herabsetzung der Präsenzzeit und ohne Verminderung der
Mannschaft wird es allerdings nicht abgehen, und dies bleibt auf alle Fälle
ein Rückschritt. Manche verdenken es dem neuen Kriegsminister, daß er
sich zu diesen Zugeständnissen bequemt hat und überhaupt in Ein Cabinet
mit Varnbüler und Mittnacht getreten ist. Ohne Zweifel übernahm er den
schwierigen Posten gerade deshalb, weil er sich als Schöpfer der heutigen


dem Schlußeffekt, der am 20. März in der Stuttgarter Liederhalle veranstaltet
wurde, erwarten sollte. Die Proklamation an das würtenbergische Volk,
welche heute das Landescomite' der Volkspartei erläßt, — es ist eigentlich die
Abschiedsproclamation einer gestürzten Regierung — wird daran nichts
ändern. Daß die Bewegung in der That eine „künstlich" gemachte war,
wie die Ansprache der deutschen Partei vom 8. Februar sagte, hat sich doch
von Tag zu Tag mehr herausgestellt. Haben auch die Agitatoren überall
auf den Dörfern begreiflichen Anklang gefunden mit ihren Vorspiegelungen,
daß es hinfort keine Soldaten und keine Steuern mehr geben solle, so war
doch in den Städten, nicht blos in der Hauptstadt, die Theilnahme eine kühle
geblieben, und der Rückschlag aus den Kreisen des conservativen Bürger,
thums hätte sich ohne Zweifel noch stärker geltend gemacht, wenn man nicht
an der Regierung völlig irre geworden wäre, obwohl es jetzt nachträglich
kaum wird bedauert werden können, daß man der Bewegung bis zu ihrer
Schlußcomödie völlig ungehemmten Lauf verstattete.

Die Lage der Patrioten ist um so verdrießlicher, als der vor den Land¬
tag gebrachten Beschwerde der 46 von Seiten der Regierung entsprochen
wurde, noch bevor der Antrag zum Beschluß erhoben war. In den Volks¬
versammlungen war freilich von Umsturz des Kriegsdienstgesetzes, Abschaffung
der stehenden Heere, Einführung des Milizsystems, Zerreißung der Ver¬
träge u. s. w. die Rede gewesen, aber auf parlamentarischem Boden schrumpf¬
ten diese kühnen Forderungen zu der weinerlichen Bitte um möglichste Spar¬
samkeit zusammen. Hier hatten die „Großdeutschen" es verstanden, sich der
von der Volkspartet eingeleiteten Bewegung zu bemächtigen, die in der Hand
von begehrlichen Ministercandidaten rasch ein sanfteres Gepräge annahm, und
auch die Volkspartei ließ sich zur Avschwächung ihrer Forderungen herbei, damit
in der Kammer eine Mehrheit und durch diese ein „rein großdeutsches" Ministe¬
rium zu Stande käme. Jetzt sind die Früchte jener lärmenden Agitation, wie
dieser feineren Taktik verloren. Klüger als die Volkspartei waren die Ultra«
mondänen gewesen, aber klüger als diese das Ministerium, welches sie rasch
beim Wort nahm.

Welche Maßregeln nun Herr v. Succow treffen wird, um Ersparnisse
im Betrag von einer halben Million vorzunehmen und doch gleichzeitig das
Heer im bisherigen Stand der Tüchtigkeit zu erhalten, bleibt abzuwarten.
Ohne eine wettere Herabsetzung der Präsenzzeit und ohne Verminderung der
Mannschaft wird es allerdings nicht abgehen, und dies bleibt auf alle Fälle
ein Rückschritt. Manche verdenken es dem neuen Kriegsminister, daß er
sich zu diesen Zugeständnissen bequemt hat und überhaupt in Ein Cabinet
mit Varnbüler und Mittnacht getreten ist. Ohne Zweifel übernahm er den
schwierigen Posten gerade deshalb, weil er sich als Schöpfer der heutigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/34>, abgerufen am 27.07.2024.