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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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pulös angezweifelt und geprüft wurde, konnte Golther sich erlauben, über die
Mittel des Staats wie der Gemeinden fast unbeschränkt zu verfügen. Man
kann eine aufrichtige Hochachtung vor der Volksbildung empfinden, und es
doch z. B. für ein Experiment von zweifelhaftem Werth halten, wenn für
jede Dorfschule die Anschaffung einer Electrifirmaschine angeordnet wird. Und
die Resultate blieben trotz alledem fraglich. Es wäre schwer zu behaup¬
ten, daß unser Volk z. B. bei den letzten politischen Wahlen einen außer¬
ordentlichen Grad von Einsicht und feiner Bildung an den Tag gelegt hätte.

Eine ausgesprochene politische Gesinnung, wie sie seinem Vorgänger
eigen war. bringt der neue Cultusminister, so viel man weiß, nicht mit. Das
neue Cabinet erhält durch ihn keine schärfere Nuance weder nach der einen
noch nach der anderen Seite. Im Jahr 1830, als die Anhänger der Gothaer
Partei aus Anlaß einer Versammlung zu Plochingen auch in Würtemberg
sich zählten, befand sich unter den Unterzeichnern jenes Programms auch der
damalige Assessor oder Oberjustizrath Geßler, aber der Zufall will es, daß
neben seinem Namen damals kein anderer zu lesen war als der seines Vor¬
gängers im Cultusministerium, des Herrn v. Golther, ein hinreichender Be¬
weis, daß dies alte vergessene Geschichten sind. Dagegen ist es noch in guter
Erinnerung, daß im December 1868, als es sich um die Wahl des Präsi¬
denten der Abgeordnetenkammer handelte, Geßler der Candidat der verbün¬
deten conservattven und nationalen Partei war, die ihn nur mit Mühe gegen
Probst, den Candidaten der Ultramontanen und Demokraten durchsetzen
konnte. Der letztere ging erst an zweiter Stelle aus der Wahl der Kammer
hervor und mußte sich dann mit dem Posten des ersten Vicepräsidenten be¬
gnügen. Mit seiner verständigen leidenschaftlosen Natur mag übrigens
Geßler auch in politischer Beziehung ein Gewinn für das Ministerium sein,
wenn schon sein Debüt, sein Schreiben an den ständischen Ausschuß, worin
er die Niederlegung der Präsidentenwürde anzeigte, unglücklich genug auffiel.
In den politischen Bemerkungen, die doch Niemand vom Cultusminister er¬
wartete, spiegelte sich recht die Unklarheit in dem politischen Programm der
heutigen Regierung wieder.

Es ist inzwischen eine Reihe von officiellen und officiösen Auslassungen
der Minister, zunächst für die Beamten bestimmt, erfolgt, aus welchen man
auf ihre nächsten Absichten schließen kann. Auch die vertraulicheren Wei¬
sungen sind rasch ans Tageslicht gekommen. Dank den Jndiseretionen ein¬
zelner Adressaten, welche sich beeilten, dieselben dem "Beobachter" einzusenden,
und durch diese Verbindung mit dem Organ der radikalen Opposition jeden¬
falls den triftigsten Beweis lieferten, daß es hohe Zeit ist, der einreißenven
Anarchie nach Kräften zu steuern. Konnte doch bereits auf Volksversamm¬
lungen der tolle Beschluß gefaßt werden, daß ein Manifest der Demo-


pulös angezweifelt und geprüft wurde, konnte Golther sich erlauben, über die
Mittel des Staats wie der Gemeinden fast unbeschränkt zu verfügen. Man
kann eine aufrichtige Hochachtung vor der Volksbildung empfinden, und es
doch z. B. für ein Experiment von zweifelhaftem Werth halten, wenn für
jede Dorfschule die Anschaffung einer Electrifirmaschine angeordnet wird. Und
die Resultate blieben trotz alledem fraglich. Es wäre schwer zu behaup¬
ten, daß unser Volk z. B. bei den letzten politischen Wahlen einen außer¬
ordentlichen Grad von Einsicht und feiner Bildung an den Tag gelegt hätte.

Eine ausgesprochene politische Gesinnung, wie sie seinem Vorgänger
eigen war. bringt der neue Cultusminister, so viel man weiß, nicht mit. Das
neue Cabinet erhält durch ihn keine schärfere Nuance weder nach der einen
noch nach der anderen Seite. Im Jahr 1830, als die Anhänger der Gothaer
Partei aus Anlaß einer Versammlung zu Plochingen auch in Würtemberg
sich zählten, befand sich unter den Unterzeichnern jenes Programms auch der
damalige Assessor oder Oberjustizrath Geßler, aber der Zufall will es, daß
neben seinem Namen damals kein anderer zu lesen war als der seines Vor¬
gängers im Cultusministerium, des Herrn v. Golther, ein hinreichender Be¬
weis, daß dies alte vergessene Geschichten sind. Dagegen ist es noch in guter
Erinnerung, daß im December 1868, als es sich um die Wahl des Präsi¬
denten der Abgeordnetenkammer handelte, Geßler der Candidat der verbün¬
deten conservattven und nationalen Partei war, die ihn nur mit Mühe gegen
Probst, den Candidaten der Ultramontanen und Demokraten durchsetzen
konnte. Der letztere ging erst an zweiter Stelle aus der Wahl der Kammer
hervor und mußte sich dann mit dem Posten des ersten Vicepräsidenten be¬
gnügen. Mit seiner verständigen leidenschaftlosen Natur mag übrigens
Geßler auch in politischer Beziehung ein Gewinn für das Ministerium sein,
wenn schon sein Debüt, sein Schreiben an den ständischen Ausschuß, worin
er die Niederlegung der Präsidentenwürde anzeigte, unglücklich genug auffiel.
In den politischen Bemerkungen, die doch Niemand vom Cultusminister er¬
wartete, spiegelte sich recht die Unklarheit in dem politischen Programm der
heutigen Regierung wieder.

Es ist inzwischen eine Reihe von officiellen und officiösen Auslassungen
der Minister, zunächst für die Beamten bestimmt, erfolgt, aus welchen man
auf ihre nächsten Absichten schließen kann. Auch die vertraulicheren Wei¬
sungen sind rasch ans Tageslicht gekommen. Dank den Jndiseretionen ein¬
zelner Adressaten, welche sich beeilten, dieselben dem „Beobachter" einzusenden,
und durch diese Verbindung mit dem Organ der radikalen Opposition jeden¬
falls den triftigsten Beweis lieferten, daß es hohe Zeit ist, der einreißenven
Anarchie nach Kräften zu steuern. Konnte doch bereits auf Volksversamm¬
lungen der tolle Beschluß gefaßt werden, daß ein Manifest der Demo-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/272>, abgerufen am 01.09.2024.