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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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gesetze befindet. Aber nicht das abstrakte Sittengesetz, dem Niemand gerecht
wird, sondern nur der durchschnittliche sittliche Werth der Menschen, wie sie
sind, kann dem Richter zum Maßstabe dienen; und wenn er schon zur Be¬
stimmung dieses Maßstabes lediglich auf sein eigenes unklares Gefühl und
eine ungenügende Erfahrung angewiesen ist, so sind die thatsächlichen Grund¬
lagen seines Spruchs noch mangelhafter. Er kann weder alle die vorange¬
gangenen und begleitenden Umstände genau kennen, welche den Thäter zu
dem gemacht haben, als was er sich nun zeigt, und in seinem Seelenkämpfe
den endlichen Entschluß bewirkten, noch kann er die Einwirkung vollkommen
würdigen, welche die äußeren Umstände, wie sie lagen, auf den Thäter ver¬
möge seiner besonderen intellectuellen Eigenschaften haben mußten. Denn
es ist gewiß, daß zwei Menschen von verschiedener Einsicht, aber völlig gleichem
Charakter, -- wenn eine solche Gleichheit denkbar wäre, -- unter denselben
Umständen ganz verschieden handeln würden, unbeschadet des völlig gleichen
moralischen Werths ihrer Handlungsweise, welcher sich nicht durch die Intelli¬
genz, sondern durch den Charakter bestimmt. Wenn also die Frage, welche der
Richter sich vorzulegen hat, nothwendig die ist: wie ein Mensch von durch¬
schnittlicher, so zu sagen normaler Sittlichkeit in gleicher Lage gehandelt
haben würde, so ist diese Frage mit Sicherheit nicht zu beantworten. Demgemäß
ist das Urtheil über den in einer Handlung sich aussprechenden moralischen
Charakter ein durchaus schwankendes und nicht frei von subjectiven Einge¬
bungen. Sehen wir doch, daß Menschen, die sich aus langem Umgänge
kennen, dennoch oft genug Veranlassung finden, ihr Urtheil über einander zu
ändern und zu berichtigen/

Eine bessere Kenntniß von dem Charakter eines Andern belehrt uns oft,
daß unser erstes Urtheil über eine Handlung desselben übereilt war, und selbst
Menschen, die unseren Abscheu erregen, erscheinen uns wohl, wenn wir ihren
ganzen Lebensgang und alles Vorangegangene kennen lernen, weniger schlecht,
als unglücklich. Wie kann da dem Richter zugemuthet werden, aus einer
einzelnen, ihm keineswegs mit allen auf den Thäter einwirkenden Umständen
vorliegenden Handlung den Gesammtcharakter eines Menschen zu beurtheilen?
Wird er gleichwohl durch das Gesetz gezwungen, sein Verdict hierüber abzu¬
geben, so ist derjenige Richter schlimm daran, welcher an der Ueberzeugung
festhält, daß Niemand in das Innere eines Andern blicken könne. Durch den
Entwurf des Strafgesetzbuchs wird ihm indessen noch mehr zugemuthet. Er
soll sich sogar, was uns ganz unmöglich dünkt, darüber schlüssig machen, wie
lange der Verbrecher in seiner ehrlosen Gesinnung verharren werde, denn
hiernach muß er die Dauer des Verlustes der Ehrenrechte abmessen. Sollte
aber nicht mit der im EntWurfe durchgeführten Beschränkung des Verlustes
der Ehrenrechte aus eine bestimmte Zeitdauer und mit der Abschaffung des


gesetze befindet. Aber nicht das abstrakte Sittengesetz, dem Niemand gerecht
wird, sondern nur der durchschnittliche sittliche Werth der Menschen, wie sie
sind, kann dem Richter zum Maßstabe dienen; und wenn er schon zur Be¬
stimmung dieses Maßstabes lediglich auf sein eigenes unklares Gefühl und
eine ungenügende Erfahrung angewiesen ist, so sind die thatsächlichen Grund¬
lagen seines Spruchs noch mangelhafter. Er kann weder alle die vorange¬
gangenen und begleitenden Umstände genau kennen, welche den Thäter zu
dem gemacht haben, als was er sich nun zeigt, und in seinem Seelenkämpfe
den endlichen Entschluß bewirkten, noch kann er die Einwirkung vollkommen
würdigen, welche die äußeren Umstände, wie sie lagen, auf den Thäter ver¬
möge seiner besonderen intellectuellen Eigenschaften haben mußten. Denn
es ist gewiß, daß zwei Menschen von verschiedener Einsicht, aber völlig gleichem
Charakter, — wenn eine solche Gleichheit denkbar wäre, — unter denselben
Umständen ganz verschieden handeln würden, unbeschadet des völlig gleichen
moralischen Werths ihrer Handlungsweise, welcher sich nicht durch die Intelli¬
genz, sondern durch den Charakter bestimmt. Wenn also die Frage, welche der
Richter sich vorzulegen hat, nothwendig die ist: wie ein Mensch von durch¬
schnittlicher, so zu sagen normaler Sittlichkeit in gleicher Lage gehandelt
haben würde, so ist diese Frage mit Sicherheit nicht zu beantworten. Demgemäß
ist das Urtheil über den in einer Handlung sich aussprechenden moralischen
Charakter ein durchaus schwankendes und nicht frei von subjectiven Einge¬
bungen. Sehen wir doch, daß Menschen, die sich aus langem Umgänge
kennen, dennoch oft genug Veranlassung finden, ihr Urtheil über einander zu
ändern und zu berichtigen/

Eine bessere Kenntniß von dem Charakter eines Andern belehrt uns oft,
daß unser erstes Urtheil über eine Handlung desselben übereilt war, und selbst
Menschen, die unseren Abscheu erregen, erscheinen uns wohl, wenn wir ihren
ganzen Lebensgang und alles Vorangegangene kennen lernen, weniger schlecht,
als unglücklich. Wie kann da dem Richter zugemuthet werden, aus einer
einzelnen, ihm keineswegs mit allen auf den Thäter einwirkenden Umständen
vorliegenden Handlung den Gesammtcharakter eines Menschen zu beurtheilen?
Wird er gleichwohl durch das Gesetz gezwungen, sein Verdict hierüber abzu¬
geben, so ist derjenige Richter schlimm daran, welcher an der Ueberzeugung
festhält, daß Niemand in das Innere eines Andern blicken könne. Durch den
Entwurf des Strafgesetzbuchs wird ihm indessen noch mehr zugemuthet. Er
soll sich sogar, was uns ganz unmöglich dünkt, darüber schlüssig machen, wie
lange der Verbrecher in seiner ehrlosen Gesinnung verharren werde, denn
hiernach muß er die Dauer des Verlustes der Ehrenrechte abmessen. Sollte
aber nicht mit der im EntWurfe durchgeführten Beschränkung des Verlustes
der Ehrenrechte aus eine bestimmte Zeitdauer und mit der Abschaffung des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/236>, abgerufen am 27.07.2024.