Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.lus": die episch-lyrische, ich halte sie auch für den Componisten insofern am Den 5. Novbr. Ich habe die Symphonie (von Schumann) vorgestern lus": die episch-lyrische, ich halte sie auch für den Componisten insofern am Den 5. Novbr. Ich habe die Symphonie (von Schumann) vorgestern <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0189" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123809"/> <p xml:id="ID_570" prev="#ID_569"> lus": die episch-lyrische, ich halte sie auch für den Componisten insofern am<lb/> günstigsten, als er hier weniger versucht ist, in das Theatralische zu gerathen,<lb/> worin man freilich jetzt strengere Forderungen des Styls geltend machen<lb/> will, als früher, wo zwischen einer Oratorien-Arie und einer ernsten Opern-<lb/> Arie kaum ein Unterschied wahrzunehmen ist. Das Oratorium liegt noch<lb/> bei mir, ich gebe es aber in diesen Tagen zurück. Hofrath Rochlitz ist unser<lb/> ganz naher Nachbar und war uns von den ersten Tagen an sehr freundlich.<lb/> Nächsten Sonnabend singen wir als Motette einen zweichörigen lateinischen<lb/> Hymnus von Gallus (dem deutschen Hähnel) 1515 componirt, und mein<lb/> „Salve Regina". Die Motettenmusik wird abwechselnd von einem der vier<lb/> Präfecten dirigirt, und ich mag es nicht abändern, nicht weil es altes Her¬<lb/> kommen ist, aber es erhält einen Wetteifer unter ihnen, jeder Wochenpräfect<lb/> sucht es an Auswahl und Ausführungen den andern zuvor zu thun. Es ist,<lb/> seit ich hier bin, außer einer Motette von Reichardt noch nichts Schlechtes<lb/> vorgekommen, obwohl des ganz Erfreulichen dieser Gattung nicht eben viel<lb/> vorhanden ist. Ich hoffe, daß wir künftig Ihre Psalmen singen können,<lb/> fürs Erste möcht' ich's noch nicht. Der Chor ist eisenfest in diatonischen<lb/> Sachen, mit allen möglichen Figuren und Coloraturen, aber bei chromatischen<lb/> singt er so falsch wie andere auch. Zum chromatisch rein Singen gehört<lb/> musikalische Bildung, mit dem Notentreffen allein ist es nicht zu erlangen,<lb/> der Sänger muß sich der inneren harmonischen Vorgänge bewußt sein. Ich<lb/> erfahre es zu meinem Aerger jedesmal bei einer Stelle des Salve Regina;<lb/> wenn es klänge, wär's mir lieber, als daß ich weiß, warum es nicht klingt.<lb/> Daß aber zu einer Vocalmusik, um sie ausführbar zu machen, allezeit ein<lb/> Cluvier gespielt werden muß, ist doch auch keine zu rechtfertigende Bedingung,<lb/> und die Aelteren hatten so unrecht nicht, sich für diese Gattung an sehr be¬<lb/> stimmte Gesetze zu halten. Ich schäme mich einer solchen Stelle mehr, als<lb/> wenn offenbare Octaven und Quinten dastünden. Dabei könnte man doch<lb/> reine Töne hören. Im Aerger wasch' ich den Jungen den Kopf, aber ich<lb/> weiß recht wohl, daß er mir müßte gewaschen werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_571" next="#ID_572"> Den 5. Novbr. Ich habe die Symphonie (von Schumann) vorgestern<lb/> im fünften Concert gehört, und es freut mich, daß Sie Ihnen auch bekannt<lb/> werden soll — langweilig ist's keinen Augenblick, vielmehr überall blühend<lb/> und lebendig, zuweilen etwas curios, aber immer Musik: eine Bettina, die<lb/> man nicht gerade zur Hausfrau möchte, die aber märchenhaft poetisch, sehr<lb/> anregend und unterhaltend ist. — Verholst ist von Leipzig abgereist und geht<lb/> nach Holland zurück. Er ist ein eigener, lebhafter Mensch, sehr enthusiastischer<lb/> Natur. Musikalisch habe ich von ihm Nichts kennen lernen, er kam vor<lb/> nicht langer Zeit erst von einer Reise zurück und ich habe ihn wenig gesehen.<lb/> Wenn ich mehr Lust zum Schulmeistern hätte, als ich sie habe, könnte ich</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0189]
lus": die episch-lyrische, ich halte sie auch für den Componisten insofern am
günstigsten, als er hier weniger versucht ist, in das Theatralische zu gerathen,
worin man freilich jetzt strengere Forderungen des Styls geltend machen
will, als früher, wo zwischen einer Oratorien-Arie und einer ernsten Opern-
Arie kaum ein Unterschied wahrzunehmen ist. Das Oratorium liegt noch
bei mir, ich gebe es aber in diesen Tagen zurück. Hofrath Rochlitz ist unser
ganz naher Nachbar und war uns von den ersten Tagen an sehr freundlich.
Nächsten Sonnabend singen wir als Motette einen zweichörigen lateinischen
Hymnus von Gallus (dem deutschen Hähnel) 1515 componirt, und mein
„Salve Regina". Die Motettenmusik wird abwechselnd von einem der vier
Präfecten dirigirt, und ich mag es nicht abändern, nicht weil es altes Her¬
kommen ist, aber es erhält einen Wetteifer unter ihnen, jeder Wochenpräfect
sucht es an Auswahl und Ausführungen den andern zuvor zu thun. Es ist,
seit ich hier bin, außer einer Motette von Reichardt noch nichts Schlechtes
vorgekommen, obwohl des ganz Erfreulichen dieser Gattung nicht eben viel
vorhanden ist. Ich hoffe, daß wir künftig Ihre Psalmen singen können,
fürs Erste möcht' ich's noch nicht. Der Chor ist eisenfest in diatonischen
Sachen, mit allen möglichen Figuren und Coloraturen, aber bei chromatischen
singt er so falsch wie andere auch. Zum chromatisch rein Singen gehört
musikalische Bildung, mit dem Notentreffen allein ist es nicht zu erlangen,
der Sänger muß sich der inneren harmonischen Vorgänge bewußt sein. Ich
erfahre es zu meinem Aerger jedesmal bei einer Stelle des Salve Regina;
wenn es klänge, wär's mir lieber, als daß ich weiß, warum es nicht klingt.
Daß aber zu einer Vocalmusik, um sie ausführbar zu machen, allezeit ein
Cluvier gespielt werden muß, ist doch auch keine zu rechtfertigende Bedingung,
und die Aelteren hatten so unrecht nicht, sich für diese Gattung an sehr be¬
stimmte Gesetze zu halten. Ich schäme mich einer solchen Stelle mehr, als
wenn offenbare Octaven und Quinten dastünden. Dabei könnte man doch
reine Töne hören. Im Aerger wasch' ich den Jungen den Kopf, aber ich
weiß recht wohl, daß er mir müßte gewaschen werden.
Den 5. Novbr. Ich habe die Symphonie (von Schumann) vorgestern
im fünften Concert gehört, und es freut mich, daß Sie Ihnen auch bekannt
werden soll — langweilig ist's keinen Augenblick, vielmehr überall blühend
und lebendig, zuweilen etwas curios, aber immer Musik: eine Bettina, die
man nicht gerade zur Hausfrau möchte, die aber märchenhaft poetisch, sehr
anregend und unterhaltend ist. — Verholst ist von Leipzig abgereist und geht
nach Holland zurück. Er ist ein eigener, lebhafter Mensch, sehr enthusiastischer
Natur. Musikalisch habe ich von ihm Nichts kennen lernen, er kam vor
nicht langer Zeit erst von einer Reise zurück und ich habe ihn wenig gesehen.
Wenn ich mehr Lust zum Schulmeistern hätte, als ich sie habe, könnte ich
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