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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band.

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auf dem Teller zu zusammenlegt; das hat zwar Anfang und Ende, es ist
aber doch kein Fisch -- oder wie unsere Symphonien im Schauspiel, wenn wir
vom Thema im zweiten Theil anfingen. Mir wars immer lieber, den ersten
Theil zu geben und in der Dominante zu schließen. Es soll etwas nicht
blos bei sich bleiben, es soll herausgehen, um zu sich selbst zu kommen! Das
Erste ist nur der Keim, das Andere ist die Frucht. Neulich spielte Mendels¬
sohn sein D-moII-Concert. Das ist doch eine ganz andere Art Musik, nie
wird sie blos Virtuosenzweck haben. Auch bei den glänzendsten Sätzen ist
es immer der musikalische Gehalt, die Idee, die ihm am Herzen liegt, wie
es bei Ihren Molinconcerten auch ist, weshalb allein sie schon über allen
Vergleich mit anderen Sachen der Art stehen. Es ist wahr, daß diese moder-
nen Claviervirtuosen Sachen spielen, die man, ohne selbst Clavierspieler zu
sein, kaum begreift, auch wenn man sie spielen sieht; aber es wiederholen sich
doch dieselben Effecte schon jetzt so viel, daß man kaum noch Interesse daran
nehmen kann, und was die Millionen von Noten betrifft, so mögen das die
Rothschilde zu schätzen und abzuschätzen wissen, für uns wirds wieder eine
compacte Einheit und Einförmigkeit. -- In dem Concert der Schröder-Devrient
kamen mehre interessante Sachen vor, die Ouvertüre zu Rui-Blas von Men¬
delssohn und Scenen aus der Oper Rienzi von Richard Wagner, welcher
selbst dirigirte. Die Ouvertüre ist schnell gemacht, hört sich wenigstens so
an, sie gefiel mir recht gut, ich habe aber von Componisten der Art, wie Men¬
delssohn, sowie von Beethoven auch, die satt und reif getragenen Kompo¬
sitionen lieber. In einem früheren Concerte wurde nach einer der schön¬
sten Symphonien von Haydn eine Ouvertüre von Beethoven (op. 124),
ein Gelegenheitsstück gegeben, die mir nach jenem so schön künstlerisch
empfundenen Werke in ihrem besonderen Gefühls - Egoismus ganz roh
und widerlich erschien. Hier heißt es: "Erlaubt ist was gefällt" dort:
"Erlaubt ist, was sich ziemt". Der Unterschied der Sittlichkeit und der
bloßen Sinnlichkeit. Die Sittlichkeit schließt die Sinnlichkeit nicht aus,
aber sie schließt sie eben ein, sodaß sie nicht alles überschwemmend überlaufe.
Beethoven's Compositionen haben dann, wann er sich so gehen läßt, den
Charakter geistreicher Improvisationen, die man als solche hochstellen kann,
ohne daß sie damit als Kunstwerke auf gleiche Höhe zu stehen kommen. Dort
gilt schon der bloßs Fortgang und der Gedankenzufluß; im Kunstwe.k will
man ein überschauendes Selbstbewußtsein durchfühlen, eine Ruhe in der Un¬
ruhe, wie denn überall, wo etwas wirkliches d. h. etwas gutes entstehen
soll, entgegengesetzte Bedingungen sich vereinigen müssen. -- In Wagner's
Musik habe ich weit mehr Anspannung und Ausspannung, als erfüllenden
Inhalt gefunden. Von der Wirkung einer ganzen Oper kann man wohl
nach so wenigen einzelnen Stücken nicht urtheilen, aber die Art der Musik


auf dem Teller zu zusammenlegt; das hat zwar Anfang und Ende, es ist
aber doch kein Fisch — oder wie unsere Symphonien im Schauspiel, wenn wir
vom Thema im zweiten Theil anfingen. Mir wars immer lieber, den ersten
Theil zu geben und in der Dominante zu schließen. Es soll etwas nicht
blos bei sich bleiben, es soll herausgehen, um zu sich selbst zu kommen! Das
Erste ist nur der Keim, das Andere ist die Frucht. Neulich spielte Mendels¬
sohn sein D-moII-Concert. Das ist doch eine ganz andere Art Musik, nie
wird sie blos Virtuosenzweck haben. Auch bei den glänzendsten Sätzen ist
es immer der musikalische Gehalt, die Idee, die ihm am Herzen liegt, wie
es bei Ihren Molinconcerten auch ist, weshalb allein sie schon über allen
Vergleich mit anderen Sachen der Art stehen. Es ist wahr, daß diese moder-
nen Claviervirtuosen Sachen spielen, die man, ohne selbst Clavierspieler zu
sein, kaum begreift, auch wenn man sie spielen sieht; aber es wiederholen sich
doch dieselben Effecte schon jetzt so viel, daß man kaum noch Interesse daran
nehmen kann, und was die Millionen von Noten betrifft, so mögen das die
Rothschilde zu schätzen und abzuschätzen wissen, für uns wirds wieder eine
compacte Einheit und Einförmigkeit. — In dem Concert der Schröder-Devrient
kamen mehre interessante Sachen vor, die Ouvertüre zu Rui-Blas von Men¬
delssohn und Scenen aus der Oper Rienzi von Richard Wagner, welcher
selbst dirigirte. Die Ouvertüre ist schnell gemacht, hört sich wenigstens so
an, sie gefiel mir recht gut, ich habe aber von Componisten der Art, wie Men¬
delssohn, sowie von Beethoven auch, die satt und reif getragenen Kompo¬
sitionen lieber. In einem früheren Concerte wurde nach einer der schön¬
sten Symphonien von Haydn eine Ouvertüre von Beethoven (op. 124),
ein Gelegenheitsstück gegeben, die mir nach jenem so schön künstlerisch
empfundenen Werke in ihrem besonderen Gefühls - Egoismus ganz roh
und widerlich erschien. Hier heißt es: „Erlaubt ist was gefällt" dort:
„Erlaubt ist, was sich ziemt". Der Unterschied der Sittlichkeit und der
bloßen Sinnlichkeit. Die Sittlichkeit schließt die Sinnlichkeit nicht aus,
aber sie schließt sie eben ein, sodaß sie nicht alles überschwemmend überlaufe.
Beethoven's Compositionen haben dann, wann er sich so gehen läßt, den
Charakter geistreicher Improvisationen, die man als solche hochstellen kann,
ohne daß sie damit als Kunstwerke auf gleiche Höhe zu stehen kommen. Dort
gilt schon der bloßs Fortgang und der Gedankenzufluß; im Kunstwe.k will
man ein überschauendes Selbstbewußtsein durchfühlen, eine Ruhe in der Un¬
ruhe, wie denn überall, wo etwas wirkliches d. h. etwas gutes entstehen
soll, entgegengesetzte Bedingungen sich vereinigen müssen. — In Wagner's
Musik habe ich weit mehr Anspannung und Ausspannung, als erfüllenden
Inhalt gefunden. Von der Wirkung einer ganzen Oper kann man wohl
nach so wenigen einzelnen Stücken nicht urtheilen, aber die Art der Musik


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[0187] auf dem Teller zu zusammenlegt; das hat zwar Anfang und Ende, es ist aber doch kein Fisch — oder wie unsere Symphonien im Schauspiel, wenn wir vom Thema im zweiten Theil anfingen. Mir wars immer lieber, den ersten Theil zu geben und in der Dominante zu schließen. Es soll etwas nicht blos bei sich bleiben, es soll herausgehen, um zu sich selbst zu kommen! Das Erste ist nur der Keim, das Andere ist die Frucht. Neulich spielte Mendels¬ sohn sein D-moII-Concert. Das ist doch eine ganz andere Art Musik, nie wird sie blos Virtuosenzweck haben. Auch bei den glänzendsten Sätzen ist es immer der musikalische Gehalt, die Idee, die ihm am Herzen liegt, wie es bei Ihren Molinconcerten auch ist, weshalb allein sie schon über allen Vergleich mit anderen Sachen der Art stehen. Es ist wahr, daß diese moder- nen Claviervirtuosen Sachen spielen, die man, ohne selbst Clavierspieler zu sein, kaum begreift, auch wenn man sie spielen sieht; aber es wiederholen sich doch dieselben Effecte schon jetzt so viel, daß man kaum noch Interesse daran nehmen kann, und was die Millionen von Noten betrifft, so mögen das die Rothschilde zu schätzen und abzuschätzen wissen, für uns wirds wieder eine compacte Einheit und Einförmigkeit. — In dem Concert der Schröder-Devrient kamen mehre interessante Sachen vor, die Ouvertüre zu Rui-Blas von Men¬ delssohn und Scenen aus der Oper Rienzi von Richard Wagner, welcher selbst dirigirte. Die Ouvertüre ist schnell gemacht, hört sich wenigstens so an, sie gefiel mir recht gut, ich habe aber von Componisten der Art, wie Men¬ delssohn, sowie von Beethoven auch, die satt und reif getragenen Kompo¬ sitionen lieber. In einem früheren Concerte wurde nach einer der schön¬ sten Symphonien von Haydn eine Ouvertüre von Beethoven (op. 124), ein Gelegenheitsstück gegeben, die mir nach jenem so schön künstlerisch empfundenen Werke in ihrem besonderen Gefühls - Egoismus ganz roh und widerlich erschien. Hier heißt es: „Erlaubt ist was gefällt" dort: „Erlaubt ist, was sich ziemt". Der Unterschied der Sittlichkeit und der bloßen Sinnlichkeit. Die Sittlichkeit schließt die Sinnlichkeit nicht aus, aber sie schließt sie eben ein, sodaß sie nicht alles überschwemmend überlaufe. Beethoven's Compositionen haben dann, wann er sich so gehen läßt, den Charakter geistreicher Improvisationen, die man als solche hochstellen kann, ohne daß sie damit als Kunstwerke auf gleiche Höhe zu stehen kommen. Dort gilt schon der bloßs Fortgang und der Gedankenzufluß; im Kunstwe.k will man ein überschauendes Selbstbewußtsein durchfühlen, eine Ruhe in der Un¬ ruhe, wie denn überall, wo etwas wirkliches d. h. etwas gutes entstehen soll, entgegengesetzte Bedingungen sich vereinigen müssen. — In Wagner's Musik habe ich weit mehr Anspannung und Ausspannung, als erfüllenden Inhalt gefunden. Von der Wirkung einer ganzen Oper kann man wohl nach so wenigen einzelnen Stücken nicht urtheilen, aber die Art der Musik

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123619/187>, abgerufen am 01.09.2024.