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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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äußersten Rechten haben sich in den verschiedenen Gemeinden bald hier bald
dort vorherrschend zur Geltung gebracht. Wir haben Gemeinden, welche
durch die Bemühungen ihrer Geistlichen in der Mehrzahl ihrer Mitglieder
durchaus dem Reformerthum angehören, andere die an der Orthodoxie fest¬
halten, wieder andere -- und diese dürften die Mehrheit bilden --^ welche
der Vermittelungstheologie ihrer Prediger anhängen. Bei der gegenwärtig
noch centralisirten Kirchenverfassung haben nun in der Cantonssynode, welche
die allgemeinen Angelegenheiten im Einklang mit den Staatsbehörden ent¬
scheidet, die Reformer gar kein Organ zu ihrer Vertretung und selbst die ge¬
mäßigten Vermittelungstheologen müssen sich als Minderheit vor der ortho¬
doxen Mehrheit bindende Beschlüsse gefallen lassen. Sobald hingegen der
Schwerpunkt des kirchlichen Lebens von der repräsentativcentralen Cantonal-
synode in die Gemeinden hinaus verlegt würde, fiele diese Abnormität weg
und das kirchlich-religiöse Leben, das seinem Wesen nach noch viel mehr als
das staatliche der Freiheit bedarf, könnte sich ungehemmt nach der individu¬
ellen Ueberzeugung der einzelnen Gemeinden entwickeln. Es wäre damit ein
auf die thatsächlichen Bedürfnisse des gegenwärtigen Zustandes basirter Ueber¬
gang zur gänzlichen Ablösung der Kirche vom Staate gemacht, welche sich
später von selbst vollziehen müßte.

Zu einer solchen gänzlichen Trennung gehört aber ein selbständigeres
und bewußter durchgebildetes religiöses Leben als zur bloßen Demokratisi-
rung des kirchlichen Lebens an der Hand des Staates. Ein Streben in jener
erstern Richtung finden wir nun hauptsächlich in der französischen Schweiz.
Die theologischen Richtungen sind im Allgemeinen dieselben wie in der deut¬
schen Schweiz; aber sie treten mit mehr Energie und Entschiedenheit auf.
Die Trennung der Kirche vom Staate wird von zwei entgegengesetzten Rich¬
tungen verlangt: von einer rationalistischen, radicalen und von einer posi¬
tiven, conservativen. Die Gestalt, welche man der vom Staate abgelösten
Kirche geben will, hängt aufs Innigste mit der Doctrin zusammen, von der
man ausgeht. Der Rationalismus eines Buisson ist innerlich so negativer
Natur, daß er sich äußerlich mehr an das politisch-sociale Leben anlehnt und
mehr auf dieses belebend und reinigend einzuwirken, als auf das positiv reli¬
giöse Leben sich zu stützen und auf dasselbe Einfluß zu gewinnen sucht. Seine
Kirche ist mehr eine politisch-moralische Gesellschaft, eine Gesellschaft von
Wissenden, als eine Gemeinschaft von Gläubigen. Aber auch den Positiven
drohen bei der beabsichtigten Trennung vom Staate Gefahren: gerade weil sie
ein so laxes Programm wie dasjenige Buisson's verwerfen, laufen sie Gefahr
sich in Secten zu zersplittern, von denen jede im ausschließlichen Besitz der
Wahrheit zu sein behauptet.

Das "liberale Christenthum" -- dies istder Name, den Buisson seiner Kirche


äußersten Rechten haben sich in den verschiedenen Gemeinden bald hier bald
dort vorherrschend zur Geltung gebracht. Wir haben Gemeinden, welche
durch die Bemühungen ihrer Geistlichen in der Mehrzahl ihrer Mitglieder
durchaus dem Reformerthum angehören, andere die an der Orthodoxie fest¬
halten, wieder andere — und diese dürften die Mehrheit bilden —^ welche
der Vermittelungstheologie ihrer Prediger anhängen. Bei der gegenwärtig
noch centralisirten Kirchenverfassung haben nun in der Cantonssynode, welche
die allgemeinen Angelegenheiten im Einklang mit den Staatsbehörden ent¬
scheidet, die Reformer gar kein Organ zu ihrer Vertretung und selbst die ge¬
mäßigten Vermittelungstheologen müssen sich als Minderheit vor der ortho¬
doxen Mehrheit bindende Beschlüsse gefallen lassen. Sobald hingegen der
Schwerpunkt des kirchlichen Lebens von der repräsentativcentralen Cantonal-
synode in die Gemeinden hinaus verlegt würde, fiele diese Abnormität weg
und das kirchlich-religiöse Leben, das seinem Wesen nach noch viel mehr als
das staatliche der Freiheit bedarf, könnte sich ungehemmt nach der individu¬
ellen Ueberzeugung der einzelnen Gemeinden entwickeln. Es wäre damit ein
auf die thatsächlichen Bedürfnisse des gegenwärtigen Zustandes basirter Ueber¬
gang zur gänzlichen Ablösung der Kirche vom Staate gemacht, welche sich
später von selbst vollziehen müßte.

Zu einer solchen gänzlichen Trennung gehört aber ein selbständigeres
und bewußter durchgebildetes religiöses Leben als zur bloßen Demokratisi-
rung des kirchlichen Lebens an der Hand des Staates. Ein Streben in jener
erstern Richtung finden wir nun hauptsächlich in der französischen Schweiz.
Die theologischen Richtungen sind im Allgemeinen dieselben wie in der deut¬
schen Schweiz; aber sie treten mit mehr Energie und Entschiedenheit auf.
Die Trennung der Kirche vom Staate wird von zwei entgegengesetzten Rich¬
tungen verlangt: von einer rationalistischen, radicalen und von einer posi¬
tiven, conservativen. Die Gestalt, welche man der vom Staate abgelösten
Kirche geben will, hängt aufs Innigste mit der Doctrin zusammen, von der
man ausgeht. Der Rationalismus eines Buisson ist innerlich so negativer
Natur, daß er sich äußerlich mehr an das politisch-sociale Leben anlehnt und
mehr auf dieses belebend und reinigend einzuwirken, als auf das positiv reli¬
giöse Leben sich zu stützen und auf dasselbe Einfluß zu gewinnen sucht. Seine
Kirche ist mehr eine politisch-moralische Gesellschaft, eine Gesellschaft von
Wissenden, als eine Gemeinschaft von Gläubigen. Aber auch den Positiven
drohen bei der beabsichtigten Trennung vom Staate Gefahren: gerade weil sie
ein so laxes Programm wie dasjenige Buisson's verwerfen, laufen sie Gefahr
sich in Secten zu zersplittern, von denen jede im ausschließlichen Besitz der
Wahrheit zu sein behauptet.

Das „liberale Christenthum" — dies istder Name, den Buisson seiner Kirche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/99>, abgerufen am 26.06.2024.