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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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unabhängige Verfassung erhalten, die sie sich selbst geben. Das Stimmrecht
soll auf alle Angehörigen einer Confession ausgedehnt, neben dem politischen
ein kirchliches Stimmregister angelegt und in demokratischen Sinne durchge¬
führt werden. Die Gesammtheit der Genossen organistrt sich sodann zu¬
nächst zur einzelnen Kirchgemeinde, im Ferneren zur kirchlichen Volksgemeinde.
Die Organe jener ersteren sind die Kirchgemeindeversammlung und der Kirchen¬
vorstand. Die Kirchgemeindeverfammlung besteht aus sämmtlichen kirchlich
stimmfähigen Kirchgemeindeangehörigen. Sie würde über ihre kirchlichen,
ökonomischen, sittlich-religiösen Angelegenheiten zu berathen und zu beschließen
haben, die Prediger und die Mitglieder des Kirchenvorstandes wählen, über¬
haupt allgemein kirchliche Angelegenheiten von besonderer Wichtigkeit be¬
rathen und Anträge bei der Synode zu stellen berechtigt sein. Das Ver¬
waltungsorgan der Gemeinde wäre der Kirchenvorstand, welcher deren In¬
teressen zu wahren und ihr christliches Leben zu fördern hätte. Aus seinen
bisherigen Befugnissen wären selbstverständlich die rein politischen auszu¬
scheiden. In Ehescheidungssachen käme ihm wie bisher der Sühneversuch zu,
jedoch nur bei den kirchlich getrauten Ehen. Hiermit wäre eine wesentliche
Erweiterung der Kompetenz dieser Vorstände gewonnen.

Die Cantonssynode, als das legislative Centralorgan der Kirche würde
direct und ohne Dazwischentreten der abzuschaffenden Bezirkssynoden durch
die als kirchliche Volksgemeinde zusammentretender Confessionsgenossen ge¬
wählt. An die Stelle der Bezirkssynoden könnten in freierer Weise organi-
sirte Kreise oder Bezirksversammlungen treten. Die Cantonssynode hätte die
Gesammtinteressen der Kirche zu berathen und zu fördern. Insbesondere
käme ihr die kirchliche Gesetzgebung zu, immer jedoch mit der Einschränkung,
daß sämmtliche von ihr entworfene Gesetze erst in Kraft treten, nachdem
sie von der Mehrheit der Kirchgenossen angenommen worden -- das Re¬
ferendum. Sie würde auch eine Verwaltungsbehörde für die Gesammt-
kirche zu wählen haben.

Dieß das Wesentliche der Reformbestrebungen auf dem Gebiete der
äußern Gestaltung des Kirchenlebens. Mit den Anschauungen der Reformer
in Beziehung auf den Inhalt des religiösen Glaubens und Lebens haben
wir es hier nicht zu thun, um so weniger als sich die bernischen Bestrebungen
nach dieser Richtung hin durch keine besondere Originalität von andern
unterscheiden. Ihre Bedeutung liegt vielmehr in ihrer praktischen, auf die
äußere Gestaltung des kirchlichen Lebens gerichteten Seite. Sie sind prak¬
tisch ausführbar, sie sind geeignet dem gegenwärtigen innern Zustande eine
entsprechende äußere Form zu geben. Die Nothwendigkeit aus der gegen¬
wärtigen Gebundenheit herauszukommen wird immer lebhafter empfunden.
Die verschiedenen theologischen Richtungen von der äußersten Linken bis zur


unabhängige Verfassung erhalten, die sie sich selbst geben. Das Stimmrecht
soll auf alle Angehörigen einer Confession ausgedehnt, neben dem politischen
ein kirchliches Stimmregister angelegt und in demokratischen Sinne durchge¬
führt werden. Die Gesammtheit der Genossen organistrt sich sodann zu¬
nächst zur einzelnen Kirchgemeinde, im Ferneren zur kirchlichen Volksgemeinde.
Die Organe jener ersteren sind die Kirchgemeindeversammlung und der Kirchen¬
vorstand. Die Kirchgemeindeverfammlung besteht aus sämmtlichen kirchlich
stimmfähigen Kirchgemeindeangehörigen. Sie würde über ihre kirchlichen,
ökonomischen, sittlich-religiösen Angelegenheiten zu berathen und zu beschließen
haben, die Prediger und die Mitglieder des Kirchenvorstandes wählen, über¬
haupt allgemein kirchliche Angelegenheiten von besonderer Wichtigkeit be¬
rathen und Anträge bei der Synode zu stellen berechtigt sein. Das Ver¬
waltungsorgan der Gemeinde wäre der Kirchenvorstand, welcher deren In¬
teressen zu wahren und ihr christliches Leben zu fördern hätte. Aus seinen
bisherigen Befugnissen wären selbstverständlich die rein politischen auszu¬
scheiden. In Ehescheidungssachen käme ihm wie bisher der Sühneversuch zu,
jedoch nur bei den kirchlich getrauten Ehen. Hiermit wäre eine wesentliche
Erweiterung der Kompetenz dieser Vorstände gewonnen.

Die Cantonssynode, als das legislative Centralorgan der Kirche würde
direct und ohne Dazwischentreten der abzuschaffenden Bezirkssynoden durch
die als kirchliche Volksgemeinde zusammentretender Confessionsgenossen ge¬
wählt. An die Stelle der Bezirkssynoden könnten in freierer Weise organi-
sirte Kreise oder Bezirksversammlungen treten. Die Cantonssynode hätte die
Gesammtinteressen der Kirche zu berathen und zu fördern. Insbesondere
käme ihr die kirchliche Gesetzgebung zu, immer jedoch mit der Einschränkung,
daß sämmtliche von ihr entworfene Gesetze erst in Kraft treten, nachdem
sie von der Mehrheit der Kirchgenossen angenommen worden — das Re¬
ferendum. Sie würde auch eine Verwaltungsbehörde für die Gesammt-
kirche zu wählen haben.

Dieß das Wesentliche der Reformbestrebungen auf dem Gebiete der
äußern Gestaltung des Kirchenlebens. Mit den Anschauungen der Reformer
in Beziehung auf den Inhalt des religiösen Glaubens und Lebens haben
wir es hier nicht zu thun, um so weniger als sich die bernischen Bestrebungen
nach dieser Richtung hin durch keine besondere Originalität von andern
unterscheiden. Ihre Bedeutung liegt vielmehr in ihrer praktischen, auf die
äußere Gestaltung des kirchlichen Lebens gerichteten Seite. Sie sind prak¬
tisch ausführbar, sie sind geeignet dem gegenwärtigen innern Zustande eine
entsprechende äußere Form zu geben. Die Nothwendigkeit aus der gegen¬
wärtigen Gebundenheit herauszukommen wird immer lebhafter empfunden.
Die verschiedenen theologischen Richtungen von der äußersten Linken bis zur


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[0098] unabhängige Verfassung erhalten, die sie sich selbst geben. Das Stimmrecht soll auf alle Angehörigen einer Confession ausgedehnt, neben dem politischen ein kirchliches Stimmregister angelegt und in demokratischen Sinne durchge¬ führt werden. Die Gesammtheit der Genossen organistrt sich sodann zu¬ nächst zur einzelnen Kirchgemeinde, im Ferneren zur kirchlichen Volksgemeinde. Die Organe jener ersteren sind die Kirchgemeindeversammlung und der Kirchen¬ vorstand. Die Kirchgemeindeverfammlung besteht aus sämmtlichen kirchlich stimmfähigen Kirchgemeindeangehörigen. Sie würde über ihre kirchlichen, ökonomischen, sittlich-religiösen Angelegenheiten zu berathen und zu beschließen haben, die Prediger und die Mitglieder des Kirchenvorstandes wählen, über¬ haupt allgemein kirchliche Angelegenheiten von besonderer Wichtigkeit be¬ rathen und Anträge bei der Synode zu stellen berechtigt sein. Das Ver¬ waltungsorgan der Gemeinde wäre der Kirchenvorstand, welcher deren In¬ teressen zu wahren und ihr christliches Leben zu fördern hätte. Aus seinen bisherigen Befugnissen wären selbstverständlich die rein politischen auszu¬ scheiden. In Ehescheidungssachen käme ihm wie bisher der Sühneversuch zu, jedoch nur bei den kirchlich getrauten Ehen. Hiermit wäre eine wesentliche Erweiterung der Kompetenz dieser Vorstände gewonnen. Die Cantonssynode, als das legislative Centralorgan der Kirche würde direct und ohne Dazwischentreten der abzuschaffenden Bezirkssynoden durch die als kirchliche Volksgemeinde zusammentretender Confessionsgenossen ge¬ wählt. An die Stelle der Bezirkssynoden könnten in freierer Weise organi- sirte Kreise oder Bezirksversammlungen treten. Die Cantonssynode hätte die Gesammtinteressen der Kirche zu berathen und zu fördern. Insbesondere käme ihr die kirchliche Gesetzgebung zu, immer jedoch mit der Einschränkung, daß sämmtliche von ihr entworfene Gesetze erst in Kraft treten, nachdem sie von der Mehrheit der Kirchgenossen angenommen worden — das Re¬ ferendum. Sie würde auch eine Verwaltungsbehörde für die Gesammt- kirche zu wählen haben. Dieß das Wesentliche der Reformbestrebungen auf dem Gebiete der äußern Gestaltung des Kirchenlebens. Mit den Anschauungen der Reformer in Beziehung auf den Inhalt des religiösen Glaubens und Lebens haben wir es hier nicht zu thun, um so weniger als sich die bernischen Bestrebungen nach dieser Richtung hin durch keine besondere Originalität von andern unterscheiden. Ihre Bedeutung liegt vielmehr in ihrer praktischen, auf die äußere Gestaltung des kirchlichen Lebens gerichteten Seite. Sie sind prak¬ tisch ausführbar, sie sind geeignet dem gegenwärtigen innern Zustande eine entsprechende äußere Form zu geben. Die Nothwendigkeit aus der gegen¬ wärtigen Gebundenheit herauszukommen wird immer lebhafter empfunden. Die verschiedenen theologischen Richtungen von der äußersten Linken bis zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/98>, abgerufen am 26.06.2024.