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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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der Zukunft gibt, gab sein erstes Lebenszeichen mit der Forderung, die Bibel,
namentlich das Alte Testament aus der Volksschule zu verbannen, weil sie
durch ihre vielen das sittliche Gefühl irre leitenden oder verletzenden Ge¬
schichten bei der Jugend mehr schade als nütze. Eine solche Forderung konnte
nur daraus entstehen, daß man die Folgen einer geistlosen, starren, mit dem
modernen Bewußtsein in Widerspruch stehenden Behandlung des biblischen
Stoffes vor Augen hatte. Herrn Buisson's Lehre ist überhaupt nur in ihrer
Negativität berechtigt. Sie ist ein Zeichen der Zeit, daß Vieles der Er¬
neuerung und Verbesserung bedarf, daß das moderne Bewußtsein über die
Formen, welche die höchsten Wahrheiten des Lebens enthalten sollen, hinaus¬
geschritten, daß die Kirche hinter dem Leben zurückgeblieben ist. Herrn
Buisson's Lehre verwirft aber mit den veralteten Formen auch ihren ewigen
Inhalt und sucht das reine Gold mit großer Mühe auf einem Gebiete,
welches dasselbe doch nur vermischt mit vielen Schlacken finden läßt: in
einer nur humanistischen Religion. Er will Wirkungen sehen, praktische,
das Leben erfrischende und erneuernde, bessernde Wirkungen, wenn er eine
Kirche anerkennen soll, die diesen Namen verdient. Die bestehenden Kirchen
aber, sagt er, heißen sie wie sie wollen, bilden eher ein Hinderniß als ein
Förderungsmittel für jene geforderten Wirkungen. Und dieses Hindernisses
Ursachen glaubt er in dem Priesterthum, den Katechismen, den Mysterien,
den Dogmen zu finden. Er verlangt daher eine Kirche ohne Priester, eine
Religion ohne Katechismus, einen Cult ohne Mysterien, eine Moral ohne
Theologie, einen Gott ohne System. Die Bibel darf nach ihm nur als ein
rein menschliches Buch ohne jedes göttliche Ansehen beibehalten werden, aus
dem jeder sich zur Beherzigung nehmen kann, was er für seine Person braucht.
Auch Christus wird gewissermaßen nur provisorisch beibehalten, weil es noch
lange Zeit Männer und Frauen geben werde, die weder Zeit noch Mittel
besitzen sich mit der Sprache der Abstraction vertraut zu machen und weil
diesen statt einer allgemeinen Theorie ein concreter Typus, eine Persönlich¬
keit dargeboten werden müsse, die an sich selbst schon ein bestimmtes "Pro¬
gramm" bilde. Ein solcher Typus, und zugleich der Gründer einer neuen,
der einzig wahren Religion, der Religion der Wahrheit und der Liebe sei
Christus gewesen. Weiter aber dürfe die Kirche nicht gehen. An die Stelle
des sogenannten positiven Glaubens müsse als die einzige Autorität das in¬
dividuelle Gewissen treten und die Kirche dürfe nur noch eine große Reli¬
gionsgesellschaft sein, welcher Anhänger jedes individuellen Glaubens beitreten
können: auszuschließen von derselben seien nur die Intoleranten, d. h. die
einen bestimmten positiven Glauben zu besitzen vorgeben. Diese neue Kirche
ist nun offenbar nicht Selbstzweck; sie soll vielmehr das Mittel sein, um die
politischen und socialen Zustände verbessern zu können und in neuer und ge-


der Zukunft gibt, gab sein erstes Lebenszeichen mit der Forderung, die Bibel,
namentlich das Alte Testament aus der Volksschule zu verbannen, weil sie
durch ihre vielen das sittliche Gefühl irre leitenden oder verletzenden Ge¬
schichten bei der Jugend mehr schade als nütze. Eine solche Forderung konnte
nur daraus entstehen, daß man die Folgen einer geistlosen, starren, mit dem
modernen Bewußtsein in Widerspruch stehenden Behandlung des biblischen
Stoffes vor Augen hatte. Herrn Buisson's Lehre ist überhaupt nur in ihrer
Negativität berechtigt. Sie ist ein Zeichen der Zeit, daß Vieles der Er¬
neuerung und Verbesserung bedarf, daß das moderne Bewußtsein über die
Formen, welche die höchsten Wahrheiten des Lebens enthalten sollen, hinaus¬
geschritten, daß die Kirche hinter dem Leben zurückgeblieben ist. Herrn
Buisson's Lehre verwirft aber mit den veralteten Formen auch ihren ewigen
Inhalt und sucht das reine Gold mit großer Mühe auf einem Gebiete,
welches dasselbe doch nur vermischt mit vielen Schlacken finden läßt: in
einer nur humanistischen Religion. Er will Wirkungen sehen, praktische,
das Leben erfrischende und erneuernde, bessernde Wirkungen, wenn er eine
Kirche anerkennen soll, die diesen Namen verdient. Die bestehenden Kirchen
aber, sagt er, heißen sie wie sie wollen, bilden eher ein Hinderniß als ein
Förderungsmittel für jene geforderten Wirkungen. Und dieses Hindernisses
Ursachen glaubt er in dem Priesterthum, den Katechismen, den Mysterien,
den Dogmen zu finden. Er verlangt daher eine Kirche ohne Priester, eine
Religion ohne Katechismus, einen Cult ohne Mysterien, eine Moral ohne
Theologie, einen Gott ohne System. Die Bibel darf nach ihm nur als ein
rein menschliches Buch ohne jedes göttliche Ansehen beibehalten werden, aus
dem jeder sich zur Beherzigung nehmen kann, was er für seine Person braucht.
Auch Christus wird gewissermaßen nur provisorisch beibehalten, weil es noch
lange Zeit Männer und Frauen geben werde, die weder Zeit noch Mittel
besitzen sich mit der Sprache der Abstraction vertraut zu machen und weil
diesen statt einer allgemeinen Theorie ein concreter Typus, eine Persönlich¬
keit dargeboten werden müsse, die an sich selbst schon ein bestimmtes „Pro¬
gramm" bilde. Ein solcher Typus, und zugleich der Gründer einer neuen,
der einzig wahren Religion, der Religion der Wahrheit und der Liebe sei
Christus gewesen. Weiter aber dürfe die Kirche nicht gehen. An die Stelle
des sogenannten positiven Glaubens müsse als die einzige Autorität das in¬
dividuelle Gewissen treten und die Kirche dürfe nur noch eine große Reli¬
gionsgesellschaft sein, welcher Anhänger jedes individuellen Glaubens beitreten
können: auszuschließen von derselben seien nur die Intoleranten, d. h. die
einen bestimmten positiven Glauben zu besitzen vorgeben. Diese neue Kirche
ist nun offenbar nicht Selbstzweck; sie soll vielmehr das Mittel sein, um die
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/100>, abgerufen am 26.06.2024.