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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Speciell in Bern entwickelte sich die Kirchenverfassung in extrem-absolutistischen
Sinne. Die Regierung bemächtigte sich der Kirchenhoheit und machte die¬
selbe gegen Geistlichkeit wie Laien mit einer Strenge geltend, daß selbst
England sie bei einem Anlaß zur Toleranz ernähren zu sollen glaubte. Den
Geistlichen ward verboten über Glaubenssachen zu verhandeln und ihre regel¬
mäßigen Zusammenkünfte wurden untersagt. Gegen Andersdenkende wurde
mit größter Rücksichtslosigkeit verfahren. Die Geistlichen wurden durch ihren
Amtseid verpflichtet, jeden vom vorgeschriebenen Glauben Abgewichenen, der
sich nicht bekehren wolle, der Obrigkeit zu denunciren. Dieser Zustand dauerte
bis zur französischen Revolution und auch noch in der darauf folgenden
Mediationszeit wurde es nicht viel besser. Erst die Verfassungen von 1830
und 1846 bahnten bessere Zeiten an. Auf jene basirt das gegenwärtig noch
geltende Kirchengesetz von 1882, in welchem namentlich der Beamtenorganis-
mus und der Wahlmodus viel zu wünschen lassen. Da gibt es z. B. fünf¬
zehn verschiedene Behörden, welche in Ktrchensachen mitzusprechen haben. Bei
der Wahlart dieser Behörden herrscht die größte Engherzigkeit bezüglich der
Wahlberechtigung. Die Wahlart ist eine zwiefach indirecte: die Kirchge¬
meinde wählt einen Kirchenvorstand, die Kirchenvorstände wählen die Be¬
zirkssynoden, diese endlich wählen die Cantonssynoden.

An die Stelle dieser bureaukratischen Formen soll nun nach Ansicht
der Reformer das Princip der "reinen Demokratie" treten, basirt auf die
Glaubens- und Gewissensfreiheit. Zurückkehrend zum uranfänglichen Princip
der Reformation und analog der sog. rein demokratischen "Volksgesetzgebung"
soll der Schwerpunkt des kirchlichen Lebens in die Peripherie der Gemein¬
den hinausverlegt werden. Jedoch werden die Mitglieder der Kirchengemeinde
zunächst als Staatsbürger aufgefaßt: man will keine vollständige Trennung
der Kirche vom Staat, sondern nur eine scharfe Begrenzung zwischen beiden.
Man fürchtet, daß die vom Staate gänzlich getrennte Kirche "in die Hände
von Leuten fallen könnte, in welchen man sie nicht gerne sähe". Man
traut also der völlig unabhängig gestellten Kirche nicht die gesunde Lebens¬
kraft zu, welche ihr die Führung des Staates entbehrlich machen könnte.
Diesem letzteren soll daher sein bisheriges Oberhoheitsrecht verbleiben, ver¬
bunden mit der Pflicht, die Kirche zu schützen und für ihre ökonomischen Be¬
dürfnisse nach dem Maßstabe seiner bisherigen Leistungen und in Berücksich¬
tigung des von ihm in Verwaltung genommenen Kirchengutes zu sorgen.

Diese Beibehaltung der Verbindung zwischen Kirche und Staat erheischt
aber andererseits eine um so bestimmtere Anerkennung des Princips der Parität
und eine um so schärfere Ausscheidung der Competenzen. Man erkennt die
Nothwendigkeit, die Staatsbehörden nicht mehr in das Innere der Confessionen
hineinregieren zu lassen und letzere sollen daher eine vom Staate durchaus


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Speciell in Bern entwickelte sich die Kirchenverfassung in extrem-absolutistischen
Sinne. Die Regierung bemächtigte sich der Kirchenhoheit und machte die¬
selbe gegen Geistlichkeit wie Laien mit einer Strenge geltend, daß selbst
England sie bei einem Anlaß zur Toleranz ernähren zu sollen glaubte. Den
Geistlichen ward verboten über Glaubenssachen zu verhandeln und ihre regel¬
mäßigen Zusammenkünfte wurden untersagt. Gegen Andersdenkende wurde
mit größter Rücksichtslosigkeit verfahren. Die Geistlichen wurden durch ihren
Amtseid verpflichtet, jeden vom vorgeschriebenen Glauben Abgewichenen, der
sich nicht bekehren wolle, der Obrigkeit zu denunciren. Dieser Zustand dauerte
bis zur französischen Revolution und auch noch in der darauf folgenden
Mediationszeit wurde es nicht viel besser. Erst die Verfassungen von 1830
und 1846 bahnten bessere Zeiten an. Auf jene basirt das gegenwärtig noch
geltende Kirchengesetz von 1882, in welchem namentlich der Beamtenorganis-
mus und der Wahlmodus viel zu wünschen lassen. Da gibt es z. B. fünf¬
zehn verschiedene Behörden, welche in Ktrchensachen mitzusprechen haben. Bei
der Wahlart dieser Behörden herrscht die größte Engherzigkeit bezüglich der
Wahlberechtigung. Die Wahlart ist eine zwiefach indirecte: die Kirchge¬
meinde wählt einen Kirchenvorstand, die Kirchenvorstände wählen die Be¬
zirkssynoden, diese endlich wählen die Cantonssynoden.

An die Stelle dieser bureaukratischen Formen soll nun nach Ansicht
der Reformer das Princip der „reinen Demokratie" treten, basirt auf die
Glaubens- und Gewissensfreiheit. Zurückkehrend zum uranfänglichen Princip
der Reformation und analog der sog. rein demokratischen „Volksgesetzgebung"
soll der Schwerpunkt des kirchlichen Lebens in die Peripherie der Gemein¬
den hinausverlegt werden. Jedoch werden die Mitglieder der Kirchengemeinde
zunächst als Staatsbürger aufgefaßt: man will keine vollständige Trennung
der Kirche vom Staat, sondern nur eine scharfe Begrenzung zwischen beiden.
Man fürchtet, daß die vom Staate gänzlich getrennte Kirche „in die Hände
von Leuten fallen könnte, in welchen man sie nicht gerne sähe". Man
traut also der völlig unabhängig gestellten Kirche nicht die gesunde Lebens¬
kraft zu, welche ihr die Führung des Staates entbehrlich machen könnte.
Diesem letzteren soll daher sein bisheriges Oberhoheitsrecht verbleiben, ver¬
bunden mit der Pflicht, die Kirche zu schützen und für ihre ökonomischen Be¬
dürfnisse nach dem Maßstabe seiner bisherigen Leistungen und in Berücksich¬
tigung des von ihm in Verwaltung genommenen Kirchengutes zu sorgen.

Diese Beibehaltung der Verbindung zwischen Kirche und Staat erheischt
aber andererseits eine um so bestimmtere Anerkennung des Princips der Parität
und eine um so schärfere Ausscheidung der Competenzen. Man erkennt die
Nothwendigkeit, die Staatsbehörden nicht mehr in das Innere der Confessionen
hineinregieren zu lassen und letzere sollen daher eine vom Staate durchaus


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[0097] Speciell in Bern entwickelte sich die Kirchenverfassung in extrem-absolutistischen Sinne. Die Regierung bemächtigte sich der Kirchenhoheit und machte die¬ selbe gegen Geistlichkeit wie Laien mit einer Strenge geltend, daß selbst England sie bei einem Anlaß zur Toleranz ernähren zu sollen glaubte. Den Geistlichen ward verboten über Glaubenssachen zu verhandeln und ihre regel¬ mäßigen Zusammenkünfte wurden untersagt. Gegen Andersdenkende wurde mit größter Rücksichtslosigkeit verfahren. Die Geistlichen wurden durch ihren Amtseid verpflichtet, jeden vom vorgeschriebenen Glauben Abgewichenen, der sich nicht bekehren wolle, der Obrigkeit zu denunciren. Dieser Zustand dauerte bis zur französischen Revolution und auch noch in der darauf folgenden Mediationszeit wurde es nicht viel besser. Erst die Verfassungen von 1830 und 1846 bahnten bessere Zeiten an. Auf jene basirt das gegenwärtig noch geltende Kirchengesetz von 1882, in welchem namentlich der Beamtenorganis- mus und der Wahlmodus viel zu wünschen lassen. Da gibt es z. B. fünf¬ zehn verschiedene Behörden, welche in Ktrchensachen mitzusprechen haben. Bei der Wahlart dieser Behörden herrscht die größte Engherzigkeit bezüglich der Wahlberechtigung. Die Wahlart ist eine zwiefach indirecte: die Kirchge¬ meinde wählt einen Kirchenvorstand, die Kirchenvorstände wählen die Be¬ zirkssynoden, diese endlich wählen die Cantonssynoden. An die Stelle dieser bureaukratischen Formen soll nun nach Ansicht der Reformer das Princip der „reinen Demokratie" treten, basirt auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Zurückkehrend zum uranfänglichen Princip der Reformation und analog der sog. rein demokratischen „Volksgesetzgebung" soll der Schwerpunkt des kirchlichen Lebens in die Peripherie der Gemein¬ den hinausverlegt werden. Jedoch werden die Mitglieder der Kirchengemeinde zunächst als Staatsbürger aufgefaßt: man will keine vollständige Trennung der Kirche vom Staat, sondern nur eine scharfe Begrenzung zwischen beiden. Man fürchtet, daß die vom Staate gänzlich getrennte Kirche „in die Hände von Leuten fallen könnte, in welchen man sie nicht gerne sähe". Man traut also der völlig unabhängig gestellten Kirche nicht die gesunde Lebens¬ kraft zu, welche ihr die Führung des Staates entbehrlich machen könnte. Diesem letzteren soll daher sein bisheriges Oberhoheitsrecht verbleiben, ver¬ bunden mit der Pflicht, die Kirche zu schützen und für ihre ökonomischen Be¬ dürfnisse nach dem Maßstabe seiner bisherigen Leistungen und in Berücksich¬ tigung des von ihm in Verwaltung genommenen Kirchengutes zu sorgen. Diese Beibehaltung der Verbindung zwischen Kirche und Staat erheischt aber andererseits eine um so bestimmtere Anerkennung des Princips der Parität und eine um so schärfere Ausscheidung der Competenzen. Man erkennt die Nothwendigkeit, die Staatsbehörden nicht mehr in das Innere der Confessionen hineinregieren zu lassen und letzere sollen daher eine vom Staate durchaus 12*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/97>, abgerufen am 26.06.2024.