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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Pflanzstätten der neuen freieren Richtung wurden. Zur Gewinnung eines
größeren Anhanges unter dem gebildeten Laienstande wurde ebenfalls nach
Zürichs Vorgang eine Zeitschrift herausgegeben. Die Fortschritte dieser
Richtung waren Anfangs unbedeutend, langsam, schwerfällig, wie es der
Stammescharakter der Berner mit sich brachte, dabei aber sicher und nach¬
haltig und ohne ein Zurückweichen auf der einmal betretenen Bahn wahr¬
nehmen zu lassen. Erst in neuester Zeit machten sie zunächst in Folge der
Gründung eines Vereins von jüngeren Reformgeistlichen und dann wegen dessen
innerer Spaltung, welche den Austritt der minder radicalen Elemente und deren
Constituirung zu einer besonderen Vereinigung, die eine vermittelnde Stel¬
lung zwischen ihren bisherigen Genossen und den Altgläubigen einnahm,
mehr von sich reden. Zum offenen Kampf aber kam es auf der letzten Can-
tonssynode, deren rechtgläubige Mehrheit das Bernervolk in einem "Hirten¬
briefe" vor der neuen Lehre warnen zu sollen glaubte. Die Reformer, weil
meist aus jüngeren Geistlichen bestehend, waren auf dieser Versammlung in
Folge des für diese geltenden Wahlgesetzes gar nicht vertreten, und wenn es
schließlich nicht gelang, die beabsichtigte Kundgebung in ihrer ursprünglich
gewollten Schroffheit durchzusetzen, so war dies nur der Mäßigung und Ver¬
mittelung der früheren Genoffen der Reformer zu danken, welche Alles daran ge¬
setzt hatten, ihre alten Freunde gegen das Ankämpfen der starren Orthodoxie zu
beschützen. Indessen auch diese gemäßigtere Kundgebung, welche nun blos
als Ansprache an die Kirchenvorstände "zu Handen" der Gemeinden, nicht
als Hirtenbrief an die Gemeindegenossen selbst erlassen wurde, machte den
Riß größer. Eine Anzahl von Gemeinden demonstrirte in der einen oder
anderen Weise gegen die Ansprache. Es kam ein regeres Leben in die
Reformbestrebungen, Versammlungen von Geistlichen und Laien wurden ge-
halten, selbst politische Vereine bemächtigten sich der angeregten Fragen und
die Bewegung gipfelte schließlich in dem Streben nach einer Revision der
Kirchenverfassung nach rein demokratischen Principien.

Schon früher hatten die Reformer bei Gelegenheit der Schleiermacher-
Feier eine Art von Programm aufgestellt, das eine Religion ohne Dogmen,
eine möglichst sich selbst regierende Kirche, einen Gott ohne Wunder als
Hauptförderungen betonte. Man wollte analog den neuesten politischen Be¬
strebungen eine demokratische Gestaltung der Staatskirche. Und hierzu hat
man in der That eigentlich noch mehr Ursache in der Kirche als im Staate.
Denn wie in Deutschland, so ward auch in der Schweiz der ursprüngliche
ächt demokratische reformatorische Gedanke des allgemeinen Priesterthums gleich
nach Erlöschen der ersten Begeisterung für die neue Lehre von der Geistlichkeit
zurückgenommen, der Episkopat, den der katholische Clerus besessen, für
die neue Kirche beansprucht und zu einem förmlichen System ausgebildet.


Pflanzstätten der neuen freieren Richtung wurden. Zur Gewinnung eines
größeren Anhanges unter dem gebildeten Laienstande wurde ebenfalls nach
Zürichs Vorgang eine Zeitschrift herausgegeben. Die Fortschritte dieser
Richtung waren Anfangs unbedeutend, langsam, schwerfällig, wie es der
Stammescharakter der Berner mit sich brachte, dabei aber sicher und nach¬
haltig und ohne ein Zurückweichen auf der einmal betretenen Bahn wahr¬
nehmen zu lassen. Erst in neuester Zeit machten sie zunächst in Folge der
Gründung eines Vereins von jüngeren Reformgeistlichen und dann wegen dessen
innerer Spaltung, welche den Austritt der minder radicalen Elemente und deren
Constituirung zu einer besonderen Vereinigung, die eine vermittelnde Stel¬
lung zwischen ihren bisherigen Genossen und den Altgläubigen einnahm,
mehr von sich reden. Zum offenen Kampf aber kam es auf der letzten Can-
tonssynode, deren rechtgläubige Mehrheit das Bernervolk in einem „Hirten¬
briefe" vor der neuen Lehre warnen zu sollen glaubte. Die Reformer, weil
meist aus jüngeren Geistlichen bestehend, waren auf dieser Versammlung in
Folge des für diese geltenden Wahlgesetzes gar nicht vertreten, und wenn es
schließlich nicht gelang, die beabsichtigte Kundgebung in ihrer ursprünglich
gewollten Schroffheit durchzusetzen, so war dies nur der Mäßigung und Ver¬
mittelung der früheren Genoffen der Reformer zu danken, welche Alles daran ge¬
setzt hatten, ihre alten Freunde gegen das Ankämpfen der starren Orthodoxie zu
beschützen. Indessen auch diese gemäßigtere Kundgebung, welche nun blos
als Ansprache an die Kirchenvorstände „zu Handen" der Gemeinden, nicht
als Hirtenbrief an die Gemeindegenossen selbst erlassen wurde, machte den
Riß größer. Eine Anzahl von Gemeinden demonstrirte in der einen oder
anderen Weise gegen die Ansprache. Es kam ein regeres Leben in die
Reformbestrebungen, Versammlungen von Geistlichen und Laien wurden ge-
halten, selbst politische Vereine bemächtigten sich der angeregten Fragen und
die Bewegung gipfelte schließlich in dem Streben nach einer Revision der
Kirchenverfassung nach rein demokratischen Principien.

Schon früher hatten die Reformer bei Gelegenheit der Schleiermacher-
Feier eine Art von Programm aufgestellt, das eine Religion ohne Dogmen,
eine möglichst sich selbst regierende Kirche, einen Gott ohne Wunder als
Hauptförderungen betonte. Man wollte analog den neuesten politischen Be¬
strebungen eine demokratische Gestaltung der Staatskirche. Und hierzu hat
man in der That eigentlich noch mehr Ursache in der Kirche als im Staate.
Denn wie in Deutschland, so ward auch in der Schweiz der ursprüngliche
ächt demokratische reformatorische Gedanke des allgemeinen Priesterthums gleich
nach Erlöschen der ersten Begeisterung für die neue Lehre von der Geistlichkeit
zurückgenommen, der Episkopat, den der katholische Clerus besessen, für
die neue Kirche beansprucht und zu einem förmlichen System ausgebildet.


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[0096] Pflanzstätten der neuen freieren Richtung wurden. Zur Gewinnung eines größeren Anhanges unter dem gebildeten Laienstande wurde ebenfalls nach Zürichs Vorgang eine Zeitschrift herausgegeben. Die Fortschritte dieser Richtung waren Anfangs unbedeutend, langsam, schwerfällig, wie es der Stammescharakter der Berner mit sich brachte, dabei aber sicher und nach¬ haltig und ohne ein Zurückweichen auf der einmal betretenen Bahn wahr¬ nehmen zu lassen. Erst in neuester Zeit machten sie zunächst in Folge der Gründung eines Vereins von jüngeren Reformgeistlichen und dann wegen dessen innerer Spaltung, welche den Austritt der minder radicalen Elemente und deren Constituirung zu einer besonderen Vereinigung, die eine vermittelnde Stel¬ lung zwischen ihren bisherigen Genossen und den Altgläubigen einnahm, mehr von sich reden. Zum offenen Kampf aber kam es auf der letzten Can- tonssynode, deren rechtgläubige Mehrheit das Bernervolk in einem „Hirten¬ briefe" vor der neuen Lehre warnen zu sollen glaubte. Die Reformer, weil meist aus jüngeren Geistlichen bestehend, waren auf dieser Versammlung in Folge des für diese geltenden Wahlgesetzes gar nicht vertreten, und wenn es schließlich nicht gelang, die beabsichtigte Kundgebung in ihrer ursprünglich gewollten Schroffheit durchzusetzen, so war dies nur der Mäßigung und Ver¬ mittelung der früheren Genoffen der Reformer zu danken, welche Alles daran ge¬ setzt hatten, ihre alten Freunde gegen das Ankämpfen der starren Orthodoxie zu beschützen. Indessen auch diese gemäßigtere Kundgebung, welche nun blos als Ansprache an die Kirchenvorstände „zu Handen" der Gemeinden, nicht als Hirtenbrief an die Gemeindegenossen selbst erlassen wurde, machte den Riß größer. Eine Anzahl von Gemeinden demonstrirte in der einen oder anderen Weise gegen die Ansprache. Es kam ein regeres Leben in die Reformbestrebungen, Versammlungen von Geistlichen und Laien wurden ge- halten, selbst politische Vereine bemächtigten sich der angeregten Fragen und die Bewegung gipfelte schließlich in dem Streben nach einer Revision der Kirchenverfassung nach rein demokratischen Principien. Schon früher hatten die Reformer bei Gelegenheit der Schleiermacher- Feier eine Art von Programm aufgestellt, das eine Religion ohne Dogmen, eine möglichst sich selbst regierende Kirche, einen Gott ohne Wunder als Hauptförderungen betonte. Man wollte analog den neuesten politischen Be¬ strebungen eine demokratische Gestaltung der Staatskirche. Und hierzu hat man in der That eigentlich noch mehr Ursache in der Kirche als im Staate. Denn wie in Deutschland, so ward auch in der Schweiz der ursprüngliche ächt demokratische reformatorische Gedanke des allgemeinen Priesterthums gleich nach Erlöschen der ersten Begeisterung für die neue Lehre von der Geistlichkeit zurückgenommen, der Episkopat, den der katholische Clerus besessen, für die neue Kirche beansprucht und zu einem förmlichen System ausgebildet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/96>, abgerufen am 26.06.2024.