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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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schen Bewegung seine vollbefriedigende Nahrung'nicht findet und sich daher
auch nach der religiös-kirchlichen Seite zu wenden begonnen hat.

Wie stets in solchen Dingen ist es in der Schweiz viel mehr die prakti¬
sche als die theoretische Seite, die in dieser Bewegung in den Vordergrund
tritt. Es kann zweitens für die Richtung, welche diese Bewegung bei uns
von Anfang genommen, keine günstigere nationale Gestaltung geben als die
demokratische. Die Ideen, welche hier und dort zu Grunde liegen, sind ihrem
wesentlichen Gehalte nach dieselben.

Wir übergehen hier eine nähere Untersuchung der Ursachen, warum in
der französischen Schweiz sich eine vorherrschende Neigung zur gänzlichen
Trennung von Staat und Kirche, in der deutschen dagegen zur demokrati¬
schen Fortentwickelung der Staatskirche kund gibt. Der lebhaftere, beweg¬
lichere Sinn der Welschen mag dabei kein unbedeutendes Moment bilden,
indem er sofort dem letzten Ziele zustrebt, das nach unserer Ansicht allerdings
am Ende der Reihe der Bewegungen liegt, die wir durchzumachen haben
werden, während der ruhigere und bedächtigere Sinn der deutschen Schweizer
nur Schritt vor Schritt vorwärts streben und den Staat, wenn auch nicht
mehr als Zuchtmeister, doch als Schulmeister und Säckelmeister für die Kirche
beibehalten möchte. Nur andeuten wollen wir, daß vielleicht auch das hier
mitwirken mag, daß das kirchlich-religiöse Leben in der französischen Schweiz
weniger von der deutschen Kritik angekränkelt ist. daß daher jenes sich gesunder
und selbständiger fühlt, während die deutsche Schweiz sich weniger sicher und
fest in ihrem religiös-kirchlichen Leben weiß und sich daher gern an den
Staat anlehnt.

Genug, der Unterschied ist vorhanden. In der französischen Schweiz ist
es sowohl der extreme Rationalismus eines Buissvn, als ein großer Theil
der kleinen pietistischen Gemeinden, die libre und viele nicht separirte

Anhänger des positiven Glaubens, welche eine Trennung vom Staate an¬
streben, während in der deutschen Schweiz, namentüch in Bern, die Reformer
in einer Trennung eine Gefahr für ihre Richtung, in dem Verbleiben bei der
Staatskirche dagegen eine Kräftigung derselben erblicken, sobald es ihnen ge¬
länge, jene in demokratischer Weise umzugestalten.

Die Bewegung im Canton Bern stammt aus Zürich, wo schon seit
länger als einem Menschenalter die sogenannte freie Theologie durch einige
aus deutschen Hochschulen in die dortige Hegelei und theologische Kritik ein¬
geweihte Geistliche vermittelst periodischer Schriften in die weiteren Kreise auch
des Laienthums geworfen wurde und sich schnell einen Anhang geworben
hatte, der sich namentlich auch des wichtigen Gebietes der Volksschule beson¬
ders durch das Mittelglied des Schullehrerseminars zu bemächtigen wußte.
Wie hier, so waren es auch in Bern die Seminarien, welche zunächst zu


Grenzbote" I, 1870. 12

schen Bewegung seine vollbefriedigende Nahrung'nicht findet und sich daher
auch nach der religiös-kirchlichen Seite zu wenden begonnen hat.

Wie stets in solchen Dingen ist es in der Schweiz viel mehr die prakti¬
sche als die theoretische Seite, die in dieser Bewegung in den Vordergrund
tritt. Es kann zweitens für die Richtung, welche diese Bewegung bei uns
von Anfang genommen, keine günstigere nationale Gestaltung geben als die
demokratische. Die Ideen, welche hier und dort zu Grunde liegen, sind ihrem
wesentlichen Gehalte nach dieselben.

Wir übergehen hier eine nähere Untersuchung der Ursachen, warum in
der französischen Schweiz sich eine vorherrschende Neigung zur gänzlichen
Trennung von Staat und Kirche, in der deutschen dagegen zur demokrati¬
schen Fortentwickelung der Staatskirche kund gibt. Der lebhaftere, beweg¬
lichere Sinn der Welschen mag dabei kein unbedeutendes Moment bilden,
indem er sofort dem letzten Ziele zustrebt, das nach unserer Ansicht allerdings
am Ende der Reihe der Bewegungen liegt, die wir durchzumachen haben
werden, während der ruhigere und bedächtigere Sinn der deutschen Schweizer
nur Schritt vor Schritt vorwärts streben und den Staat, wenn auch nicht
mehr als Zuchtmeister, doch als Schulmeister und Säckelmeister für die Kirche
beibehalten möchte. Nur andeuten wollen wir, daß vielleicht auch das hier
mitwirken mag, daß das kirchlich-religiöse Leben in der französischen Schweiz
weniger von der deutschen Kritik angekränkelt ist. daß daher jenes sich gesunder
und selbständiger fühlt, während die deutsche Schweiz sich weniger sicher und
fest in ihrem religiös-kirchlichen Leben weiß und sich daher gern an den
Staat anlehnt.

Genug, der Unterschied ist vorhanden. In der französischen Schweiz ist
es sowohl der extreme Rationalismus eines Buissvn, als ein großer Theil
der kleinen pietistischen Gemeinden, die libre und viele nicht separirte

Anhänger des positiven Glaubens, welche eine Trennung vom Staate an¬
streben, während in der deutschen Schweiz, namentüch in Bern, die Reformer
in einer Trennung eine Gefahr für ihre Richtung, in dem Verbleiben bei der
Staatskirche dagegen eine Kräftigung derselben erblicken, sobald es ihnen ge¬
länge, jene in demokratischer Weise umzugestalten.

Die Bewegung im Canton Bern stammt aus Zürich, wo schon seit
länger als einem Menschenalter die sogenannte freie Theologie durch einige
aus deutschen Hochschulen in die dortige Hegelei und theologische Kritik ein¬
geweihte Geistliche vermittelst periodischer Schriften in die weiteren Kreise auch
des Laienthums geworfen wurde und sich schnell einen Anhang geworben
hatte, der sich namentlich auch des wichtigen Gebietes der Volksschule beson¬
ders durch das Mittelglied des Schullehrerseminars zu bemächtigen wußte.
Wie hier, so waren es auch in Bern die Seminarien, welche zunächst zu


Grenzbote» I, 1870. 12
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/95>, abgerufen am 26.06.2024.