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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Wollte der Kronprinz sich für diese Reise ein Erinnerungszeichen stiften,
so wagen wir mit geziemender Bescheidenheit eines vorzuschlagen: In Cairo
gehen trotz lohnender Arbeit viele wackere Deutsche zu Grunde, weil sie bei
einer Erkrankung kein deutsches Asyl haben. Es wäre ein guter Denkstein
seiner Anwesenheit in Egypten, wenn er Einfluß und Thätigkeit der Grün¬
dung und Ausstattung eines deutschen Krankenhauses in Cairo zuwenden
wollte.




Kirchliche Reformbestrebungen in der Schweiz.

Es ist nicht selten behauptet worden, das politische Leben der Schweiz sei
im Verfall begriffen, trotz oder auch gerade wegen der Versuche, aus der re¬
präsentativen in die reine und unmittelbare Demokratie hinüberzukommen.
Wir möchten dies dahin formuliren: das Land befindet sich in einer Krise.
Diese kann nun allerdings zum Guten wie zum Schlimmen führen. Aber
ein Anzeichen, daß sie zum Guten führen wird, liegt u. A. auch in dem
seit neuster Zeit erwachten kirchlich-religiösen Leben unseres Volkes. Wer
auf dem religiösen Gewohnheitsstandpunkte steht, wird freilich in dieser
Sphäre nichts als Verfall erblicken. Wer aber Bewegung, Leben, Ent¬
wickelung für wesentliche Erfordernisse des religiösen Lebens hält und
einen Blick wirft auf die gegenwärtigen Vorgänge, der wird trotz vielen
Schaums, den die erregten Wellen auf die Oberfläche treiben, sich gewisser
Hoffnungen auf die Zukunft nicht entschlagen können. Wenn auch jetzt
im Ganzen und aus nächster Nähe besehen, mehr die Verneinung, die
Leidenschaft, oft sogar der Haß der Bewegung zu Grunde zu liegen scheint,
als die Liebe, das sicherste Kennzeichen wahrer Religiosität, so ist es doch
die Verneinung, die Leidenschaft, der Haß gegen das Unwahre. Unhalt¬
bare, Verknöcherte, der Wunsch, dem sich für wahr und lebendig Ausgehen¬
den die Maske vom Geficht zu reißen.

Auf religiös, kirchlichem Gebiete ist die Schweiz ihren Nachbarn keines¬
wegs voraus. Die Bewegung des Deutschkatholicismus, der freien Gemein¬
den u. f. w. ist in Deutschland vor sich gegangen, ohne daß sie in der Schweiz
irgend Anklang gesunden hätte. Die gegenwärtige kirchliche Bewegung in der
Schweiz rührt einerseits aus den neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen deutscher
theologischer Kritik, andererseits aus dem Bedürfniß nach Erneuerung des
nationalen Gescmuntlebcns her, dessen Gestaltungsdrang in der neueren potiti-


Wollte der Kronprinz sich für diese Reise ein Erinnerungszeichen stiften,
so wagen wir mit geziemender Bescheidenheit eines vorzuschlagen: In Cairo
gehen trotz lohnender Arbeit viele wackere Deutsche zu Grunde, weil sie bei
einer Erkrankung kein deutsches Asyl haben. Es wäre ein guter Denkstein
seiner Anwesenheit in Egypten, wenn er Einfluß und Thätigkeit der Grün¬
dung und Ausstattung eines deutschen Krankenhauses in Cairo zuwenden
wollte.




Kirchliche Reformbestrebungen in der Schweiz.

Es ist nicht selten behauptet worden, das politische Leben der Schweiz sei
im Verfall begriffen, trotz oder auch gerade wegen der Versuche, aus der re¬
präsentativen in die reine und unmittelbare Demokratie hinüberzukommen.
Wir möchten dies dahin formuliren: das Land befindet sich in einer Krise.
Diese kann nun allerdings zum Guten wie zum Schlimmen führen. Aber
ein Anzeichen, daß sie zum Guten führen wird, liegt u. A. auch in dem
seit neuster Zeit erwachten kirchlich-religiösen Leben unseres Volkes. Wer
auf dem religiösen Gewohnheitsstandpunkte steht, wird freilich in dieser
Sphäre nichts als Verfall erblicken. Wer aber Bewegung, Leben, Ent¬
wickelung für wesentliche Erfordernisse des religiösen Lebens hält und
einen Blick wirft auf die gegenwärtigen Vorgänge, der wird trotz vielen
Schaums, den die erregten Wellen auf die Oberfläche treiben, sich gewisser
Hoffnungen auf die Zukunft nicht entschlagen können. Wenn auch jetzt
im Ganzen und aus nächster Nähe besehen, mehr die Verneinung, die
Leidenschaft, oft sogar der Haß der Bewegung zu Grunde zu liegen scheint,
als die Liebe, das sicherste Kennzeichen wahrer Religiosität, so ist es doch
die Verneinung, die Leidenschaft, der Haß gegen das Unwahre. Unhalt¬
bare, Verknöcherte, der Wunsch, dem sich für wahr und lebendig Ausgehen¬
den die Maske vom Geficht zu reißen.

Auf religiös, kirchlichem Gebiete ist die Schweiz ihren Nachbarn keines¬
wegs voraus. Die Bewegung des Deutschkatholicismus, der freien Gemein¬
den u. f. w. ist in Deutschland vor sich gegangen, ohne daß sie in der Schweiz
irgend Anklang gesunden hätte. Die gegenwärtige kirchliche Bewegung in der
Schweiz rührt einerseits aus den neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen deutscher
theologischer Kritik, andererseits aus dem Bedürfniß nach Erneuerung des
nationalen Gescmuntlebcns her, dessen Gestaltungsdrang in der neueren potiti-


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[0094] Wollte der Kronprinz sich für diese Reise ein Erinnerungszeichen stiften, so wagen wir mit geziemender Bescheidenheit eines vorzuschlagen: In Cairo gehen trotz lohnender Arbeit viele wackere Deutsche zu Grunde, weil sie bei einer Erkrankung kein deutsches Asyl haben. Es wäre ein guter Denkstein seiner Anwesenheit in Egypten, wenn er Einfluß und Thätigkeit der Grün¬ dung und Ausstattung eines deutschen Krankenhauses in Cairo zuwenden wollte. Kirchliche Reformbestrebungen in der Schweiz. Es ist nicht selten behauptet worden, das politische Leben der Schweiz sei im Verfall begriffen, trotz oder auch gerade wegen der Versuche, aus der re¬ präsentativen in die reine und unmittelbare Demokratie hinüberzukommen. Wir möchten dies dahin formuliren: das Land befindet sich in einer Krise. Diese kann nun allerdings zum Guten wie zum Schlimmen führen. Aber ein Anzeichen, daß sie zum Guten führen wird, liegt u. A. auch in dem seit neuster Zeit erwachten kirchlich-religiösen Leben unseres Volkes. Wer auf dem religiösen Gewohnheitsstandpunkte steht, wird freilich in dieser Sphäre nichts als Verfall erblicken. Wer aber Bewegung, Leben, Ent¬ wickelung für wesentliche Erfordernisse des religiösen Lebens hält und einen Blick wirft auf die gegenwärtigen Vorgänge, der wird trotz vielen Schaums, den die erregten Wellen auf die Oberfläche treiben, sich gewisser Hoffnungen auf die Zukunft nicht entschlagen können. Wenn auch jetzt im Ganzen und aus nächster Nähe besehen, mehr die Verneinung, die Leidenschaft, oft sogar der Haß der Bewegung zu Grunde zu liegen scheint, als die Liebe, das sicherste Kennzeichen wahrer Religiosität, so ist es doch die Verneinung, die Leidenschaft, der Haß gegen das Unwahre. Unhalt¬ bare, Verknöcherte, der Wunsch, dem sich für wahr und lebendig Ausgehen¬ den die Maske vom Geficht zu reißen. Auf religiös, kirchlichem Gebiete ist die Schweiz ihren Nachbarn keines¬ wegs voraus. Die Bewegung des Deutschkatholicismus, der freien Gemein¬ den u. f. w. ist in Deutschland vor sich gegangen, ohne daß sie in der Schweiz irgend Anklang gesunden hätte. Die gegenwärtige kirchliche Bewegung in der Schweiz rührt einerseits aus den neuesten wissenschaftlichen Ergebnissen deutscher theologischer Kritik, andererseits aus dem Bedürfniß nach Erneuerung des nationalen Gescmuntlebcns her, dessen Gestaltungsdrang in der neueren potiti-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/94>, abgerufen am 26.06.2024.