Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zeugung es einer selbstgefertigten Papiercigarre ohne Mundstück bedarf, die
zu den unfehlbaren Attributen polnisch-slavischer Eigenthümlichkeit gehört.

Die Speisetische sind so dicht besetzt, daß sich nur mühsam ein Plätzchen
finden läßt. Deutschen wie Slaven ist es eigenthümlich Speisen und Getränke
am Liebsten extrg. xg-rietes zu consumiren. Vorherrschend sind, gerade wie
am obern Lauf der Dura und des Njeman, die Juden, die auch hier den
langen nationalen Rock tragen und einen polnisch-deutschen Jargon reden,
ihrer günstigeren socialen Stellung wegen indessen zweiter Classe fahren und
speisen. Zwischen den Söhnen Israels verstreut sitzen kleine Gruppen k. k.
Offiziere in kleidsamen, polnisch-zugeschnittenen Ulanenröcken, meist polnisch
redend, mit der Lectüre des Czas, des Kraj oder der Gasea narodowa
beschäftigt und die in der östreichischen Armee übliche Strohcigarre schmauchend.
Geraucht wird unter diesem glücklichen Himmelsstrich überhaupt von Jeder¬
mann; der Kellner legt die Cigarre nur bei Seite, wenn er sein "vobiis
pari" murmelt und in Function tritt, selbst die elegante äams as Comptoir
verschmäht es nicht, gelegentlich eine Cigarette zwischen die glänzenden Zähne
zu nehmen und an der Papyros eines galanten Verehrers zu entzünden.

Am unteren Ende der langen Tafel, die rings von dem Gepäck ihrer
Insassen umgeben ist, wird deutsch gesprochen und zwar nordisches Deutsch,
laut, klar und ohne Beimischung jenes "Hab' die Ehre", an welchem die
die Söhne des östreich-ungarischen Vaterlandes einander zu erkennen pflegen.
Der preußische Zollbeamte, eine kräftige straffe Gestalt, der man den ehemaligen
Dragoner ansieht, trinkt ein Glas Bier (das herrschende Getränk ist der
süße Ungarwein, der nirgend so gut und wohlfeil zu haben ist, wie in
Galizien); er unterhält sich mit zwei Männern, die einfacher gekleidet sind,
als ihre schnurbehangenen Nachbarn, durch wohlgepflegte Hände und Hemd¬
manschetten aber die Gentlemcmn verrathen. Es sind preußische Edelleute,
die sich im nördlichen Galizien angekauft haben und nach Schlesien reisen,
um daselbst Geschäfte abzuwickeln, Männer denen man ansieht, daß sie trotz
mehrjährigen Aufenthalt unter Polen und Juden ächte Preußen geblieben,
bei ihren geschäftlichen Unternehmungen nicht zu kurz gekommen sind und keine
Furcht vor den feindlichen Einflüssen kennen, die ihnen täglich begegnen.
Auch sie bieten eine Analogie mit Gestalten, die zu jedem lithauischen
Genrebilde gehören. Das Herzogthum Auschwitz hat die Herrlichkeiten des
römisch-deutschen Reichs ebenso gründlich vergessen, wie Samogitien, das einst
zu den Füßen der deutschen Herren lag -- hier wie dort sind die alten
deutschen Namen der Provinzen und Städte längst polonisirt und in ihrer
alten Form nur noch bei deutschen Ethnographen zu finden. Aber am Njeman
wie an der Weichsel finden sich Pioniere des modernen, protestantisch-deutschen
Culturelements wieder, die die erobernde Pflugschaar nach Osten tragen. In


Grenzboten I. 1370. 10

zeugung es einer selbstgefertigten Papiercigarre ohne Mundstück bedarf, die
zu den unfehlbaren Attributen polnisch-slavischer Eigenthümlichkeit gehört.

Die Speisetische sind so dicht besetzt, daß sich nur mühsam ein Plätzchen
finden läßt. Deutschen wie Slaven ist es eigenthümlich Speisen und Getränke
am Liebsten extrg. xg-rietes zu consumiren. Vorherrschend sind, gerade wie
am obern Lauf der Dura und des Njeman, die Juden, die auch hier den
langen nationalen Rock tragen und einen polnisch-deutschen Jargon reden,
ihrer günstigeren socialen Stellung wegen indessen zweiter Classe fahren und
speisen. Zwischen den Söhnen Israels verstreut sitzen kleine Gruppen k. k.
Offiziere in kleidsamen, polnisch-zugeschnittenen Ulanenröcken, meist polnisch
redend, mit der Lectüre des Czas, des Kraj oder der Gasea narodowa
beschäftigt und die in der östreichischen Armee übliche Strohcigarre schmauchend.
Geraucht wird unter diesem glücklichen Himmelsstrich überhaupt von Jeder¬
mann; der Kellner legt die Cigarre nur bei Seite, wenn er sein „vobiis
pari" murmelt und in Function tritt, selbst die elegante äams as Comptoir
verschmäht es nicht, gelegentlich eine Cigarette zwischen die glänzenden Zähne
zu nehmen und an der Papyros eines galanten Verehrers zu entzünden.

Am unteren Ende der langen Tafel, die rings von dem Gepäck ihrer
Insassen umgeben ist, wird deutsch gesprochen und zwar nordisches Deutsch,
laut, klar und ohne Beimischung jenes „Hab' die Ehre", an welchem die
die Söhne des östreich-ungarischen Vaterlandes einander zu erkennen pflegen.
Der preußische Zollbeamte, eine kräftige straffe Gestalt, der man den ehemaligen
Dragoner ansieht, trinkt ein Glas Bier (das herrschende Getränk ist der
süße Ungarwein, der nirgend so gut und wohlfeil zu haben ist, wie in
Galizien); er unterhält sich mit zwei Männern, die einfacher gekleidet sind,
als ihre schnurbehangenen Nachbarn, durch wohlgepflegte Hände und Hemd¬
manschetten aber die Gentlemcmn verrathen. Es sind preußische Edelleute,
die sich im nördlichen Galizien angekauft haben und nach Schlesien reisen,
um daselbst Geschäfte abzuwickeln, Männer denen man ansieht, daß sie trotz
mehrjährigen Aufenthalt unter Polen und Juden ächte Preußen geblieben,
bei ihren geschäftlichen Unternehmungen nicht zu kurz gekommen sind und keine
Furcht vor den feindlichen Einflüssen kennen, die ihnen täglich begegnen.
Auch sie bieten eine Analogie mit Gestalten, die zu jedem lithauischen
Genrebilde gehören. Das Herzogthum Auschwitz hat die Herrlichkeiten des
römisch-deutschen Reichs ebenso gründlich vergessen, wie Samogitien, das einst
zu den Füßen der deutschen Herren lag — hier wie dort sind die alten
deutschen Namen der Provinzen und Städte längst polonisirt und in ihrer
alten Form nur noch bei deutschen Ethnographen zu finden. Aber am Njeman
wie an der Weichsel finden sich Pioniere des modernen, protestantisch-deutschen
Culturelements wieder, die die erobernde Pflugschaar nach Osten tragen. In


Grenzboten I. 1370. 10
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0079" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123167"/>
            <p xml:id="ID_215" prev="#ID_214"> zeugung es einer selbstgefertigten Papiercigarre ohne Mundstück bedarf, die<lb/>
zu den unfehlbaren Attributen polnisch-slavischer Eigenthümlichkeit gehört.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_216"> Die Speisetische sind so dicht besetzt, daß sich nur mühsam ein Plätzchen<lb/>
finden läßt. Deutschen wie Slaven ist es eigenthümlich Speisen und Getränke<lb/>
am Liebsten extrg. xg-rietes zu consumiren. Vorherrschend sind, gerade wie<lb/>
am obern Lauf der Dura und des Njeman, die Juden, die auch hier den<lb/>
langen nationalen Rock tragen und einen polnisch-deutschen Jargon reden,<lb/>
ihrer günstigeren socialen Stellung wegen indessen zweiter Classe fahren und<lb/>
speisen. Zwischen den Söhnen Israels verstreut sitzen kleine Gruppen k. k.<lb/>
Offiziere in kleidsamen, polnisch-zugeschnittenen Ulanenröcken, meist polnisch<lb/>
redend, mit der Lectüre des Czas, des Kraj oder der Gasea narodowa<lb/>
beschäftigt und die in der östreichischen Armee übliche Strohcigarre schmauchend.<lb/>
Geraucht wird unter diesem glücklichen Himmelsstrich überhaupt von Jeder¬<lb/>
mann; der Kellner legt die Cigarre nur bei Seite, wenn er sein &#x201E;vobiis<lb/>
pari" murmelt und in Function tritt, selbst die elegante äams as Comptoir<lb/>
verschmäht es nicht, gelegentlich eine Cigarette zwischen die glänzenden Zähne<lb/>
zu nehmen und an der Papyros eines galanten Verehrers zu entzünden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_217" next="#ID_218"> Am unteren Ende der langen Tafel, die rings von dem Gepäck ihrer<lb/>
Insassen umgeben ist, wird deutsch gesprochen und zwar nordisches Deutsch,<lb/>
laut, klar und ohne Beimischung jenes &#x201E;Hab' die Ehre", an welchem die<lb/>
die Söhne des östreich-ungarischen Vaterlandes einander zu erkennen pflegen.<lb/>
Der preußische Zollbeamte, eine kräftige straffe Gestalt, der man den ehemaligen<lb/>
Dragoner ansieht, trinkt ein Glas Bier (das herrschende Getränk ist der<lb/>
süße Ungarwein, der nirgend so gut und wohlfeil zu haben ist, wie in<lb/>
Galizien); er unterhält sich mit zwei Männern, die einfacher gekleidet sind,<lb/>
als ihre schnurbehangenen Nachbarn, durch wohlgepflegte Hände und Hemd¬<lb/>
manschetten aber die Gentlemcmn verrathen. Es sind preußische Edelleute,<lb/>
die sich im nördlichen Galizien angekauft haben und nach Schlesien reisen,<lb/>
um daselbst Geschäfte abzuwickeln, Männer denen man ansieht, daß sie trotz<lb/>
mehrjährigen Aufenthalt unter Polen und Juden ächte Preußen geblieben,<lb/>
bei ihren geschäftlichen Unternehmungen nicht zu kurz gekommen sind und keine<lb/>
Furcht vor den feindlichen Einflüssen kennen, die ihnen täglich begegnen.<lb/>
Auch sie bieten eine Analogie mit Gestalten, die zu jedem lithauischen<lb/>
Genrebilde gehören. Das Herzogthum Auschwitz hat die Herrlichkeiten des<lb/>
römisch-deutschen Reichs ebenso gründlich vergessen, wie Samogitien, das einst<lb/>
zu den Füßen der deutschen Herren lag &#x2014; hier wie dort sind die alten<lb/>
deutschen Namen der Provinzen und Städte längst polonisirt und in ihrer<lb/>
alten Form nur noch bei deutschen Ethnographen zu finden. Aber am Njeman<lb/>
wie an der Weichsel finden sich Pioniere des modernen, protestantisch-deutschen<lb/>
Culturelements wieder, die die erobernde Pflugschaar nach Osten tragen. In</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1370. 10</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0079] zeugung es einer selbstgefertigten Papiercigarre ohne Mundstück bedarf, die zu den unfehlbaren Attributen polnisch-slavischer Eigenthümlichkeit gehört. Die Speisetische sind so dicht besetzt, daß sich nur mühsam ein Plätzchen finden läßt. Deutschen wie Slaven ist es eigenthümlich Speisen und Getränke am Liebsten extrg. xg-rietes zu consumiren. Vorherrschend sind, gerade wie am obern Lauf der Dura und des Njeman, die Juden, die auch hier den langen nationalen Rock tragen und einen polnisch-deutschen Jargon reden, ihrer günstigeren socialen Stellung wegen indessen zweiter Classe fahren und speisen. Zwischen den Söhnen Israels verstreut sitzen kleine Gruppen k. k. Offiziere in kleidsamen, polnisch-zugeschnittenen Ulanenröcken, meist polnisch redend, mit der Lectüre des Czas, des Kraj oder der Gasea narodowa beschäftigt und die in der östreichischen Armee übliche Strohcigarre schmauchend. Geraucht wird unter diesem glücklichen Himmelsstrich überhaupt von Jeder¬ mann; der Kellner legt die Cigarre nur bei Seite, wenn er sein „vobiis pari" murmelt und in Function tritt, selbst die elegante äams as Comptoir verschmäht es nicht, gelegentlich eine Cigarette zwischen die glänzenden Zähne zu nehmen und an der Papyros eines galanten Verehrers zu entzünden. Am unteren Ende der langen Tafel, die rings von dem Gepäck ihrer Insassen umgeben ist, wird deutsch gesprochen und zwar nordisches Deutsch, laut, klar und ohne Beimischung jenes „Hab' die Ehre", an welchem die die Söhne des östreich-ungarischen Vaterlandes einander zu erkennen pflegen. Der preußische Zollbeamte, eine kräftige straffe Gestalt, der man den ehemaligen Dragoner ansieht, trinkt ein Glas Bier (das herrschende Getränk ist der süße Ungarwein, der nirgend so gut und wohlfeil zu haben ist, wie in Galizien); er unterhält sich mit zwei Männern, die einfacher gekleidet sind, als ihre schnurbehangenen Nachbarn, durch wohlgepflegte Hände und Hemd¬ manschetten aber die Gentlemcmn verrathen. Es sind preußische Edelleute, die sich im nördlichen Galizien angekauft haben und nach Schlesien reisen, um daselbst Geschäfte abzuwickeln, Männer denen man ansieht, daß sie trotz mehrjährigen Aufenthalt unter Polen und Juden ächte Preußen geblieben, bei ihren geschäftlichen Unternehmungen nicht zu kurz gekommen sind und keine Furcht vor den feindlichen Einflüssen kennen, die ihnen täglich begegnen. Auch sie bieten eine Analogie mit Gestalten, die zu jedem lithauischen Genrebilde gehören. Das Herzogthum Auschwitz hat die Herrlichkeiten des römisch-deutschen Reichs ebenso gründlich vergessen, wie Samogitien, das einst zu den Füßen der deutschen Herren lag — hier wie dort sind die alten deutschen Namen der Provinzen und Städte längst polonisirt und in ihrer alten Form nur noch bei deutschen Ethnographen zu finden. Aber am Njeman wie an der Weichsel finden sich Pioniere des modernen, protestantisch-deutschen Culturelements wieder, die die erobernde Pflugschaar nach Osten tragen. In Grenzboten I. 1370. 10

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/79
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/79>, abgerufen am 26.06.2024.