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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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und schlecht ^beleuchtet auf einem mit Holzhalissaden eingezäunten, natür¬
lich ungepflasterten Platz aus -- weit genug von dem Schienenwege
entfernt, um den Reisenden bis an die Knöchel in Koth versinken zu lassen.
Vordem Bahnhof wimmeln langröckige Männer mit krummen Nasen, dunklen
Bärten und glühenden Augen, umdrängt von Grauröcken, die polnisch und
deutsch durcheinander schreien, bald Fuhrleute, bald Dienstmänner, bald Rei¬
sende vorstellen sollen, durch die Form ihrer Kopfbedeckung aber errathen lassen,
daß sie sämmtlich den "deutschen" Traditionen des Herzogthums fremd geblieben
sind. Mühsam findet man aus den zahlreichen, kaum unterscheidbaren finstern
Eingängen des Gebäudes den rechten heraus; unter einem und demselben
Dach sind die Bahnhofs- und Nestaurationsräume, eine Postexpedition und
zwei Zollämter (das preußische und das östreichische) vereinigt und dem In¬
stinkt des Reisenden bleibt es überlassen, die erlaubte Thür zu finden, da
deutsche und polnische Aufschriften des Gebäudes gleich unbeleuchtet sind und
dem Eintritt in die Erholungsräume eine k. k. Visitation vorhergehen muß.

Der Salon erster Classe ist von einer Damengesellschaft eingenommen,
die sich, von Kindern und Dienerinnen begleitet, häuslich niedergelassen hat
und in polnisch-französischer Sprache Gedanken darüber austauscht, daß Paris
eigentlich ein angenehmerer Aufenthaltsort sei, als Krakau und Lemberg,
wohin man doch immer wieder zurückkehren müsse. Nach Austausch des landes¬
üblichen "xarüou" und "d. moi" bleibt nur der Rückzug in die zweite Classe
übrig, welche zugleich als Speiseanstalt dient. "Noch ist Polen nicht ver¬
loren!" lag mir bet dem Eintritt in dieses Gemach auf den Lippen. Von
Dünaburg und Wilna bis Oszwienczym sind es hundert und fünfzig deutsche
Meilen; dort waltet seit neunzig Jahren russischer, hier deutsch-östreichischer
Einfluß und doch ist die Familienähnlichkeit so frappant, daß jene Namen
sofort mit diesen vertauscht werden könnten und kein Fremder einen
Augenblick darüber im Zweifel sein kann, daß er sich auf alt-polni¬
schem Boden befindet. Derselbe niedrige, dunkele fettglänzende Saal, den
unbedeckte braune Speisetische durchschneiden -- dasselbe mit Liqueurflaschen
und gewürzten Butterkuchen ausgestattete Büffet, hinter dessen Schenk¬
tisch dieselbe holdlächelnde, schwarzäugige äams 6ö eomxtoir mit riesigem
Chignon, kokettem Halbpaletot und ringgeschmückten Händen dasitzt und
die Huldigungen der in der Umgegend stationirten Lieutenants unschuldig,
aber siegesgewiß entgegen nimmt. Trotz der zweifelhaften Farbe ihrer Fracks
und Vorhemde schreiten die schnurbartdrehenden Kellner mit einer gewissen
Ritterlichkeit auf und nieder, -- an ihren Fersen glaubt man noch die Sporen
klirren zu hören, welche einst von den glücklicheren Vorfahren dieser Cavaliere
getragen worden. Die Lust ist von jenem scharfen, tiefdunklen Rauch er¬
füllt, welchen weder Pfeife noch Cigarre herzugeben vermögen, zu dessen Er-


und schlecht ^beleuchtet auf einem mit Holzhalissaden eingezäunten, natür¬
lich ungepflasterten Platz aus — weit genug von dem Schienenwege
entfernt, um den Reisenden bis an die Knöchel in Koth versinken zu lassen.
Vordem Bahnhof wimmeln langröckige Männer mit krummen Nasen, dunklen
Bärten und glühenden Augen, umdrängt von Grauröcken, die polnisch und
deutsch durcheinander schreien, bald Fuhrleute, bald Dienstmänner, bald Rei¬
sende vorstellen sollen, durch die Form ihrer Kopfbedeckung aber errathen lassen,
daß sie sämmtlich den „deutschen" Traditionen des Herzogthums fremd geblieben
sind. Mühsam findet man aus den zahlreichen, kaum unterscheidbaren finstern
Eingängen des Gebäudes den rechten heraus; unter einem und demselben
Dach sind die Bahnhofs- und Nestaurationsräume, eine Postexpedition und
zwei Zollämter (das preußische und das östreichische) vereinigt und dem In¬
stinkt des Reisenden bleibt es überlassen, die erlaubte Thür zu finden, da
deutsche und polnische Aufschriften des Gebäudes gleich unbeleuchtet sind und
dem Eintritt in die Erholungsräume eine k. k. Visitation vorhergehen muß.

Der Salon erster Classe ist von einer Damengesellschaft eingenommen,
die sich, von Kindern und Dienerinnen begleitet, häuslich niedergelassen hat
und in polnisch-französischer Sprache Gedanken darüber austauscht, daß Paris
eigentlich ein angenehmerer Aufenthaltsort sei, als Krakau und Lemberg,
wohin man doch immer wieder zurückkehren müsse. Nach Austausch des landes¬
üblichen „xarüou" und „d. moi" bleibt nur der Rückzug in die zweite Classe
übrig, welche zugleich als Speiseanstalt dient. „Noch ist Polen nicht ver¬
loren!" lag mir bet dem Eintritt in dieses Gemach auf den Lippen. Von
Dünaburg und Wilna bis Oszwienczym sind es hundert und fünfzig deutsche
Meilen; dort waltet seit neunzig Jahren russischer, hier deutsch-östreichischer
Einfluß und doch ist die Familienähnlichkeit so frappant, daß jene Namen
sofort mit diesen vertauscht werden könnten und kein Fremder einen
Augenblick darüber im Zweifel sein kann, daß er sich auf alt-polni¬
schem Boden befindet. Derselbe niedrige, dunkele fettglänzende Saal, den
unbedeckte braune Speisetische durchschneiden — dasselbe mit Liqueurflaschen
und gewürzten Butterkuchen ausgestattete Büffet, hinter dessen Schenk¬
tisch dieselbe holdlächelnde, schwarzäugige äams 6ö eomxtoir mit riesigem
Chignon, kokettem Halbpaletot und ringgeschmückten Händen dasitzt und
die Huldigungen der in der Umgegend stationirten Lieutenants unschuldig,
aber siegesgewiß entgegen nimmt. Trotz der zweifelhaften Farbe ihrer Fracks
und Vorhemde schreiten die schnurbartdrehenden Kellner mit einer gewissen
Ritterlichkeit auf und nieder, — an ihren Fersen glaubt man noch die Sporen
klirren zu hören, welche einst von den glücklicheren Vorfahren dieser Cavaliere
getragen worden. Die Lust ist von jenem scharfen, tiefdunklen Rauch er¬
füllt, welchen weder Pfeife noch Cigarre herzugeben vermögen, zu dessen Er-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/78>, abgerufen am 26.06.2024.