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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Wie ist das möglich? Wir wollen nun hier nicht die aus S. 349 und 360 ge¬
gebene Theorie des Verfassers von der Entstehung des Bewußtseins kritisiren,
obwohl dieselbe uns an und für sich verschiedene Blößen zu bieten scheint,
sondern auf einen principiellen Punkt hinweisen. Die Entstehung des Be¬
wußtseins ist Mittel zum Zweck (wir wissen, zu welchem), der Zweckbegriff
nimmt überhaupt eine wichtige Stelle in dieser Philosophie ein, aber --
Zwecke innerhalb des Weltgetriebes und eine blinde, sich selbst nicht wissende
Macht am Steuerruder der Welt, ist offenbar ein Widerspruch. Was nie
von sich in irgend einer Gegenwart weiß, kann unmöglich von sich, als einem
Zukünftigen, wissen, demnach auch nicht sür seine Zukunft sorgen, d.h. Zwecke
setzen. Der Weltproceß beginnt, wie wir sahen, mit der "Umarmung" des
(unbewußten) Wollens und der (unbewußten) Vorstellung, sogleich aber auch
oder bald darauf die Qual des Daseins; hiergegen sorgt nun sofort wiederum
das Unbewußte durch die Einrichtung des Bewußtseins, der möglichen Eman¬
cipation des Vorstellens vom Wollen, um in weiter, nebelhafter Ferne die
Welterlösung zu sichern. Aber woher weiß denn das Ewig-Unbewußte von
dieser Qual, mit welchen Organen empfand es sie vor Entstehung des Be¬
wußtseins, d. h. vor aller Empfindung? Eine Qual, die nicht empfunden
wird, ist doch wohl überhaupt nicht; und so wäre also das Bewußtsein ge¬
schaffen, ein Uebel zu beseitigen, das erst durch das Bewußtsein ein Uebel
wird. Das Unbewußte soll ferner wissen, daß der Wille dumm und unver¬
nünftig, daß also (S. 634) "wieder gut zu machen ist, was der unvernünf¬
tige Wille schlecht gemacht hat." Weiß das Unbewußte diese Eigenschaft des
Willens vermöge des andern Theiles, der unbewußten Vorstellung? Aber der
Wille an und für sich sällt nach des Verfassers Lehre überhaupt nicht in das
Bewußtsein, um so weniger also in ein gar nicht vorhandenes und undenk¬
bares Bewußtsein der unbewußten Vorstellung, Demnach ist wohl das
Wissen und Vorstellen im Unbewußten ein anderes als in Menschenköpfen?
Das ist allerdings die Meinung des Verfassers; er sagt, das Unbewußte
denkt nicht diseursiv, sondern intuitio, es denkt zeitlos, fast alle Momente
eines Processes, Grund und Folge, Ursach und Wirkung. Mittel und Zwecke,
in Einen Moment zusammen, es beschließt in sich alle möglichen Ideen in
einem zeitlosen Jneinandersein. So kann es denn auch unter anderem das
Bewußtsein als Mittelzweck denken, ohne selbst Bewußtsein zu haben. Indeß
bei diesem Begriff des zeitlosen Denkens im Unbewußten ist es schwer den
Begriff des Processes zu fassen, der doch aus dem Unbewußten heraus
als Weltproceß sich abspinnen soll, und die Worte des Verfassers gegen den
ewigen Proceß der an sich seienden Idee Hegels dürften in einem gewissen
Falle auch gegen ihn ihre Spitze kehren. Gegen Hegel heißt es (S. 666):
"Mithin ist er (der Proceß) auch eigentlich wieder kein Proceß, sondern ein


Wie ist das möglich? Wir wollen nun hier nicht die aus S. 349 und 360 ge¬
gebene Theorie des Verfassers von der Entstehung des Bewußtseins kritisiren,
obwohl dieselbe uns an und für sich verschiedene Blößen zu bieten scheint,
sondern auf einen principiellen Punkt hinweisen. Die Entstehung des Be¬
wußtseins ist Mittel zum Zweck (wir wissen, zu welchem), der Zweckbegriff
nimmt überhaupt eine wichtige Stelle in dieser Philosophie ein, aber —
Zwecke innerhalb des Weltgetriebes und eine blinde, sich selbst nicht wissende
Macht am Steuerruder der Welt, ist offenbar ein Widerspruch. Was nie
von sich in irgend einer Gegenwart weiß, kann unmöglich von sich, als einem
Zukünftigen, wissen, demnach auch nicht sür seine Zukunft sorgen, d.h. Zwecke
setzen. Der Weltproceß beginnt, wie wir sahen, mit der „Umarmung" des
(unbewußten) Wollens und der (unbewußten) Vorstellung, sogleich aber auch
oder bald darauf die Qual des Daseins; hiergegen sorgt nun sofort wiederum
das Unbewußte durch die Einrichtung des Bewußtseins, der möglichen Eman¬
cipation des Vorstellens vom Wollen, um in weiter, nebelhafter Ferne die
Welterlösung zu sichern. Aber woher weiß denn das Ewig-Unbewußte von
dieser Qual, mit welchen Organen empfand es sie vor Entstehung des Be¬
wußtseins, d. h. vor aller Empfindung? Eine Qual, die nicht empfunden
wird, ist doch wohl überhaupt nicht; und so wäre also das Bewußtsein ge¬
schaffen, ein Uebel zu beseitigen, das erst durch das Bewußtsein ein Uebel
wird. Das Unbewußte soll ferner wissen, daß der Wille dumm und unver¬
nünftig, daß also (S. 634) „wieder gut zu machen ist, was der unvernünf¬
tige Wille schlecht gemacht hat." Weiß das Unbewußte diese Eigenschaft des
Willens vermöge des andern Theiles, der unbewußten Vorstellung? Aber der
Wille an und für sich sällt nach des Verfassers Lehre überhaupt nicht in das
Bewußtsein, um so weniger also in ein gar nicht vorhandenes und undenk¬
bares Bewußtsein der unbewußten Vorstellung, Demnach ist wohl das
Wissen und Vorstellen im Unbewußten ein anderes als in Menschenköpfen?
Das ist allerdings die Meinung des Verfassers; er sagt, das Unbewußte
denkt nicht diseursiv, sondern intuitio, es denkt zeitlos, fast alle Momente
eines Processes, Grund und Folge, Ursach und Wirkung. Mittel und Zwecke,
in Einen Moment zusammen, es beschließt in sich alle möglichen Ideen in
einem zeitlosen Jneinandersein. So kann es denn auch unter anderem das
Bewußtsein als Mittelzweck denken, ohne selbst Bewußtsein zu haben. Indeß
bei diesem Begriff des zeitlosen Denkens im Unbewußten ist es schwer den
Begriff des Processes zu fassen, der doch aus dem Unbewußten heraus
als Weltproceß sich abspinnen soll, und die Worte des Verfassers gegen den
ewigen Proceß der an sich seienden Idee Hegels dürften in einem gewissen
Falle auch gegen ihn ihre Spitze kehren. Gegen Hegel heißt es (S. 666):
„Mithin ist er (der Proceß) auch eigentlich wieder kein Proceß, sondern ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/67>, abgerufen am 26.06.2024.