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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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das mathematisch Positive und Negative unterscheiden läßt, d. h. so. "daß es
gleichgültig ist, welches Vorzeichen man dem Einen, welches dem Andern
gibt." Größer und wichtiger ist der Unterschied der beiden Philosophen in
den Consequenzen des Systems für die practische Philosophie. Wenn Schopen¬
hauer die Erlösung vom Elende des Wollens und Daseins schon dem jetzt¬
zeitigen Individuum anheimgibt in der individuellen Verneinung des Willens
zum Leben, so vermag Hartmann, wie er das Unbewußte als das All-Eine
saßt, die Umwendung des Wollens in das Nichtwollen auch nur als einen
universalen all-einigen Act zu fassen, den dereinst wenigstens die Majorität
des in der Welt thätigen Geistes vollziehen wird. Bis jedoch dieser Stand¬
punkt erreicht ist, erwächst dem Menschen die Aufgabe nicht der Verneinung,
sondern der Bejahung des Willens zum Leben, die Pflicht einer vollen Hin¬
gabe der Persönlichkeit an den Weltproceß um seines Zieles, der allgemeinen
Welterlösung willen. Denn würden wir die rüstige Förderung des Welt¬
processes nicht zu der unsrigen machen, so würden wir, d. h. das Weltwesen,
welches auch wir ist, als immanente Strafe um so viel länger die Qual des
Daseins tragen müssen. Da es freilich im Unbewußten weder Erfahrung
noch Erinnerung gibt, so bleibt die Möglichkeit offen, daß die Potenz des
Willens sich noch einmal und von Neuem zum Wollen entscheidet, woraus
weiter folgt, daß der Weltproceß sich schon beliebig oft in derselben Weise
abgespielt haben kann (S. 662). -- Soweit unser Philosoph.

Die Welterlösung erwartet derselbe offenbar nur von dem menschlichen
(Hirn) Bewußtsein; nun statuirt er aber noch manch anderes Bewußtsein
(bei Thieren, Pflanzen, selbst in der einfachen Zelle mit halbflüssigen Inhalt).
Ist auch dieses geschaffen, um an der Emancipation des Intellects vom Willen
mitzuwirken, oder ist es nur da, um immer und ewig das Weh des Da¬
seins zu empfinden? Ewig, denn wenn der Tag der Welterlösung oder, was
dasselbe sagt, der Weltvernichtung anbricht, werden die niederen, noch mit
Bewußtsein ausgestatteten organischen Wesen die Umwendung des Wollens
in das Nichtwollen mitvollziehen? Doch wohl nicht. Dann aber wird durch
den freiwilligen Untergang der gesammten Menschheit dem Weltproceß selbst
keineswegs ein Ende gemacht. Denn ists auch mehr als ein einzelner Strahl
(wie das Individuum Schopenhauer's), so ists doch immer nur ein Strahlen¬
bündel aus dem all-einigen Willen, was mit der Menschheit erlischt, während
dieser selbst (nach oft gebrauchtem Ausdruck des Verfassers) fortfahren wird,
das Leben zu packen, wo er es findet und unter anderem wahrscheinlich auch
wieder Menschen schaffen wird. -- Indeß mehr Bedenken noch, als das Ende,
erregen uns Anfang und Mitte dieser Philosophie. Am Eingange derselben
steht das Unbewußte, und aus der tiefsten, dunkelsten Nacht desselben wird
das Bewußtsein geboren, ein ganz Neues, Anderes, als das Erzeugende war.


das mathematisch Positive und Negative unterscheiden läßt, d. h. so. „daß es
gleichgültig ist, welches Vorzeichen man dem Einen, welches dem Andern
gibt." Größer und wichtiger ist der Unterschied der beiden Philosophen in
den Consequenzen des Systems für die practische Philosophie. Wenn Schopen¬
hauer die Erlösung vom Elende des Wollens und Daseins schon dem jetzt¬
zeitigen Individuum anheimgibt in der individuellen Verneinung des Willens
zum Leben, so vermag Hartmann, wie er das Unbewußte als das All-Eine
saßt, die Umwendung des Wollens in das Nichtwollen auch nur als einen
universalen all-einigen Act zu fassen, den dereinst wenigstens die Majorität
des in der Welt thätigen Geistes vollziehen wird. Bis jedoch dieser Stand¬
punkt erreicht ist, erwächst dem Menschen die Aufgabe nicht der Verneinung,
sondern der Bejahung des Willens zum Leben, die Pflicht einer vollen Hin¬
gabe der Persönlichkeit an den Weltproceß um seines Zieles, der allgemeinen
Welterlösung willen. Denn würden wir die rüstige Förderung des Welt¬
processes nicht zu der unsrigen machen, so würden wir, d. h. das Weltwesen,
welches auch wir ist, als immanente Strafe um so viel länger die Qual des
Daseins tragen müssen. Da es freilich im Unbewußten weder Erfahrung
noch Erinnerung gibt, so bleibt die Möglichkeit offen, daß die Potenz des
Willens sich noch einmal und von Neuem zum Wollen entscheidet, woraus
weiter folgt, daß der Weltproceß sich schon beliebig oft in derselben Weise
abgespielt haben kann (S. 662). — Soweit unser Philosoph.

Die Welterlösung erwartet derselbe offenbar nur von dem menschlichen
(Hirn) Bewußtsein; nun statuirt er aber noch manch anderes Bewußtsein
(bei Thieren, Pflanzen, selbst in der einfachen Zelle mit halbflüssigen Inhalt).
Ist auch dieses geschaffen, um an der Emancipation des Intellects vom Willen
mitzuwirken, oder ist es nur da, um immer und ewig das Weh des Da¬
seins zu empfinden? Ewig, denn wenn der Tag der Welterlösung oder, was
dasselbe sagt, der Weltvernichtung anbricht, werden die niederen, noch mit
Bewußtsein ausgestatteten organischen Wesen die Umwendung des Wollens
in das Nichtwollen mitvollziehen? Doch wohl nicht. Dann aber wird durch
den freiwilligen Untergang der gesammten Menschheit dem Weltproceß selbst
keineswegs ein Ende gemacht. Denn ists auch mehr als ein einzelner Strahl
(wie das Individuum Schopenhauer's), so ists doch immer nur ein Strahlen¬
bündel aus dem all-einigen Willen, was mit der Menschheit erlischt, während
dieser selbst (nach oft gebrauchtem Ausdruck des Verfassers) fortfahren wird,
das Leben zu packen, wo er es findet und unter anderem wahrscheinlich auch
wieder Menschen schaffen wird. — Indeß mehr Bedenken noch, als das Ende,
erregen uns Anfang und Mitte dieser Philosophie. Am Eingange derselben
steht das Unbewußte, und aus der tiefsten, dunkelsten Nacht desselben wird
das Bewußtsein geboren, ein ganz Neues, Anderes, als das Erzeugende war.


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[0066] das mathematisch Positive und Negative unterscheiden läßt, d. h. so. „daß es gleichgültig ist, welches Vorzeichen man dem Einen, welches dem Andern gibt." Größer und wichtiger ist der Unterschied der beiden Philosophen in den Consequenzen des Systems für die practische Philosophie. Wenn Schopen¬ hauer die Erlösung vom Elende des Wollens und Daseins schon dem jetzt¬ zeitigen Individuum anheimgibt in der individuellen Verneinung des Willens zum Leben, so vermag Hartmann, wie er das Unbewußte als das All-Eine saßt, die Umwendung des Wollens in das Nichtwollen auch nur als einen universalen all-einigen Act zu fassen, den dereinst wenigstens die Majorität des in der Welt thätigen Geistes vollziehen wird. Bis jedoch dieser Stand¬ punkt erreicht ist, erwächst dem Menschen die Aufgabe nicht der Verneinung, sondern der Bejahung des Willens zum Leben, die Pflicht einer vollen Hin¬ gabe der Persönlichkeit an den Weltproceß um seines Zieles, der allgemeinen Welterlösung willen. Denn würden wir die rüstige Förderung des Welt¬ processes nicht zu der unsrigen machen, so würden wir, d. h. das Weltwesen, welches auch wir ist, als immanente Strafe um so viel länger die Qual des Daseins tragen müssen. Da es freilich im Unbewußten weder Erfahrung noch Erinnerung gibt, so bleibt die Möglichkeit offen, daß die Potenz des Willens sich noch einmal und von Neuem zum Wollen entscheidet, woraus weiter folgt, daß der Weltproceß sich schon beliebig oft in derselben Weise abgespielt haben kann (S. 662). — Soweit unser Philosoph. Die Welterlösung erwartet derselbe offenbar nur von dem menschlichen (Hirn) Bewußtsein; nun statuirt er aber noch manch anderes Bewußtsein (bei Thieren, Pflanzen, selbst in der einfachen Zelle mit halbflüssigen Inhalt). Ist auch dieses geschaffen, um an der Emancipation des Intellects vom Willen mitzuwirken, oder ist es nur da, um immer und ewig das Weh des Da¬ seins zu empfinden? Ewig, denn wenn der Tag der Welterlösung oder, was dasselbe sagt, der Weltvernichtung anbricht, werden die niederen, noch mit Bewußtsein ausgestatteten organischen Wesen die Umwendung des Wollens in das Nichtwollen mitvollziehen? Doch wohl nicht. Dann aber wird durch den freiwilligen Untergang der gesammten Menschheit dem Weltproceß selbst keineswegs ein Ende gemacht. Denn ists auch mehr als ein einzelner Strahl (wie das Individuum Schopenhauer's), so ists doch immer nur ein Strahlen¬ bündel aus dem all-einigen Willen, was mit der Menschheit erlischt, während dieser selbst (nach oft gebrauchtem Ausdruck des Verfassers) fortfahren wird, das Leben zu packen, wo er es findet und unter anderem wahrscheinlich auch wieder Menschen schaffen wird. — Indeß mehr Bedenken noch, als das Ende, erregen uns Anfang und Mitte dieser Philosophie. Am Eingange derselben steht das Unbewußte, und aus der tiefsten, dunkelsten Nacht desselben wird das Bewußtsein geboren, ein ganz Neues, Anderes, als das Erzeugende war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/66>, abgerufen am 26.06.2024.