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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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stoßungskräfte (Aetheratome) besondern. Die Aeußerungen dieser Atomkräfte
sind individuelle Willensacte. deren Inhalt in unbewußter Vorstellung des
zu Leistenden (z. B. der Raumbeziehungen) besteht, d. h. da die Materie nichts
ist als ein System von Atomkräften in einem gewissen Gleichgewichtszustände,
da es einen Stoff als ein der Kraft entgegengesetztes Etwas nicht gibt, so
ist die Materie in Wille und Vorstellung aufgelöst. Wir gelangen so zu
einem atomistischen Dynamimus, bei welchem der Unterschied zwischen Geist
und Materie nur in höherer oder niederer Erscheinungsform desselben Wesens,
des ewig Unbewußten, besteht (S. 424). Die Atomkräfte sind nun ferner die
einfachsten Individuen, aus ihnen erbauen sich durch besonders darauf ge¬
richtete Thätigkeiten des Unbewußten die Organismen, die als Sammel¬
individuen höherer oder niederer Ordnung zu fassen sind. In den Indi¬
viduen aber der organischen Welt (deren aufsteigende Entwickelung im Sinne
eines modificirten Darwinismus dargestellt wird 0. IX.) treten zuerst deut¬
liche Spuren des Bewußtseins auf. Bedingung der Entstehung desselben ist
eine gewisse Art von materieller Bewegung in gewisser Stärke, und diese
Bedingung ist zuerst erfüllt in den Zellen (der niedrigsten Thiere und ge¬
wisser Pflanzen) mit halbflüssigen Inhalt. Aber die Bedingung der Be¬
wußtseinsentstehung fällt noch nicht mit der eigentlichen Ursache derselben zu¬
sammen. Diese liegt vielmehr im Willen, denn Bewußtsein ist nichts ande¬
res, als ein Staunen und Stutzen des Willens, sobald diesem ein von ihm
nicht Gewolltes und doch empfindlich Vorhandenes entgegentritt (S. 349).
Der Zweck aber der Erschaffung des Bewußtseins ist die Emancipation der
Vorstellung vom Willen, und dieser Zweck hängt aufs engste mit dem Ziele
des Weltprocesses überhaupt zusammen. Der Vater der Welt, der Schöpfer
aller Realität ist, wie wir wissen, der Wille, der Wille aber das absolute
Dumme: was Wunder also, daß auch die Erschaffung der Welt eine Dumm¬
heit ist. Dieser "Dummheit" ein Ende zu machen, ist das Ziel des Welt¬
processes, das eben nur durch die im Bewußtsein sich vollziehende Frei¬
machung der Vernunft von der Herrschaft des Unvernünftigen, des Willens,
erreicht werden kann. Die Dummheit des Daseins der Welt spiegelt sich ab
in der Unseligkeit dieses Daseins, in dem Ueberschuß der Unlust über die
Lust, der in der Welt stets vorhanden ist, mag das illusorische Glück nun
im gegenwärtigen oder im jenseitigen Leben oder endlich in der Zukunft des
Weltprocesses gesucht werden. Der Verfasser stimmt hier in den practischen
Resultaten mit Schopenhauer übnein, obwohl er theoretisch darin von ihm
abweicht, daß er auch die aus Illusionen stammenden Lustempfindungen mit
Recht ganz ebenso berücksichtigt, wie die auf realer Basis beruhenden, und
daß er ferner nicht, wie jener, den Schmerz für das Positive und die Lust
für das Negative erklärt, sondern Lust und Schmerz im Allgemeinen sich wie


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stoßungskräfte (Aetheratome) besondern. Die Aeußerungen dieser Atomkräfte
sind individuelle Willensacte. deren Inhalt in unbewußter Vorstellung des
zu Leistenden (z. B. der Raumbeziehungen) besteht, d. h. da die Materie nichts
ist als ein System von Atomkräften in einem gewissen Gleichgewichtszustände,
da es einen Stoff als ein der Kraft entgegengesetztes Etwas nicht gibt, so
ist die Materie in Wille und Vorstellung aufgelöst. Wir gelangen so zu
einem atomistischen Dynamimus, bei welchem der Unterschied zwischen Geist
und Materie nur in höherer oder niederer Erscheinungsform desselben Wesens,
des ewig Unbewußten, besteht (S. 424). Die Atomkräfte sind nun ferner die
einfachsten Individuen, aus ihnen erbauen sich durch besonders darauf ge¬
richtete Thätigkeiten des Unbewußten die Organismen, die als Sammel¬
individuen höherer oder niederer Ordnung zu fassen sind. In den Indi¬
viduen aber der organischen Welt (deren aufsteigende Entwickelung im Sinne
eines modificirten Darwinismus dargestellt wird 0. IX.) treten zuerst deut¬
liche Spuren des Bewußtseins auf. Bedingung der Entstehung desselben ist
eine gewisse Art von materieller Bewegung in gewisser Stärke, und diese
Bedingung ist zuerst erfüllt in den Zellen (der niedrigsten Thiere und ge¬
wisser Pflanzen) mit halbflüssigen Inhalt. Aber die Bedingung der Be¬
wußtseinsentstehung fällt noch nicht mit der eigentlichen Ursache derselben zu¬
sammen. Diese liegt vielmehr im Willen, denn Bewußtsein ist nichts ande¬
res, als ein Staunen und Stutzen des Willens, sobald diesem ein von ihm
nicht Gewolltes und doch empfindlich Vorhandenes entgegentritt (S. 349).
Der Zweck aber der Erschaffung des Bewußtseins ist die Emancipation der
Vorstellung vom Willen, und dieser Zweck hängt aufs engste mit dem Ziele
des Weltprocesses überhaupt zusammen. Der Vater der Welt, der Schöpfer
aller Realität ist, wie wir wissen, der Wille, der Wille aber das absolute
Dumme: was Wunder also, daß auch die Erschaffung der Welt eine Dumm¬
heit ist. Dieser „Dummheit" ein Ende zu machen, ist das Ziel des Welt¬
processes, das eben nur durch die im Bewußtsein sich vollziehende Frei¬
machung der Vernunft von der Herrschaft des Unvernünftigen, des Willens,
erreicht werden kann. Die Dummheit des Daseins der Welt spiegelt sich ab
in der Unseligkeit dieses Daseins, in dem Ueberschuß der Unlust über die
Lust, der in der Welt stets vorhanden ist, mag das illusorische Glück nun
im gegenwärtigen oder im jenseitigen Leben oder endlich in der Zukunft des
Weltprocesses gesucht werden. Der Verfasser stimmt hier in den practischen
Resultaten mit Schopenhauer übnein, obwohl er theoretisch darin von ihm
abweicht, daß er auch die aus Illusionen stammenden Lustempfindungen mit
Recht ganz ebenso berücksichtigt, wie die auf realer Basis beruhenden, und
daß er ferner nicht, wie jener, den Schmerz für das Positive und die Lust
für das Negative erklärt, sondern Lust und Schmerz im Allgemeinen sich wie


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[0065] stoßungskräfte (Aetheratome) besondern. Die Aeußerungen dieser Atomkräfte sind individuelle Willensacte. deren Inhalt in unbewußter Vorstellung des zu Leistenden (z. B. der Raumbeziehungen) besteht, d. h. da die Materie nichts ist als ein System von Atomkräften in einem gewissen Gleichgewichtszustände, da es einen Stoff als ein der Kraft entgegengesetztes Etwas nicht gibt, so ist die Materie in Wille und Vorstellung aufgelöst. Wir gelangen so zu einem atomistischen Dynamimus, bei welchem der Unterschied zwischen Geist und Materie nur in höherer oder niederer Erscheinungsform desselben Wesens, des ewig Unbewußten, besteht (S. 424). Die Atomkräfte sind nun ferner die einfachsten Individuen, aus ihnen erbauen sich durch besonders darauf ge¬ richtete Thätigkeiten des Unbewußten die Organismen, die als Sammel¬ individuen höherer oder niederer Ordnung zu fassen sind. In den Indi¬ viduen aber der organischen Welt (deren aufsteigende Entwickelung im Sinne eines modificirten Darwinismus dargestellt wird 0. IX.) treten zuerst deut¬ liche Spuren des Bewußtseins auf. Bedingung der Entstehung desselben ist eine gewisse Art von materieller Bewegung in gewisser Stärke, und diese Bedingung ist zuerst erfüllt in den Zellen (der niedrigsten Thiere und ge¬ wisser Pflanzen) mit halbflüssigen Inhalt. Aber die Bedingung der Be¬ wußtseinsentstehung fällt noch nicht mit der eigentlichen Ursache derselben zu¬ sammen. Diese liegt vielmehr im Willen, denn Bewußtsein ist nichts ande¬ res, als ein Staunen und Stutzen des Willens, sobald diesem ein von ihm nicht Gewolltes und doch empfindlich Vorhandenes entgegentritt (S. 349). Der Zweck aber der Erschaffung des Bewußtseins ist die Emancipation der Vorstellung vom Willen, und dieser Zweck hängt aufs engste mit dem Ziele des Weltprocesses überhaupt zusammen. Der Vater der Welt, der Schöpfer aller Realität ist, wie wir wissen, der Wille, der Wille aber das absolute Dumme: was Wunder also, daß auch die Erschaffung der Welt eine Dumm¬ heit ist. Dieser „Dummheit" ein Ende zu machen, ist das Ziel des Welt¬ processes, das eben nur durch die im Bewußtsein sich vollziehende Frei¬ machung der Vernunft von der Herrschaft des Unvernünftigen, des Willens, erreicht werden kann. Die Dummheit des Daseins der Welt spiegelt sich ab in der Unseligkeit dieses Daseins, in dem Ueberschuß der Unlust über die Lust, der in der Welt stets vorhanden ist, mag das illusorische Glück nun im gegenwärtigen oder im jenseitigen Leben oder endlich in der Zukunft des Weltprocesses gesucht werden. Der Verfasser stimmt hier in den practischen Resultaten mit Schopenhauer übnein, obwohl er theoretisch darin von ihm abweicht, daß er auch die aus Illusionen stammenden Lustempfindungen mit Recht ganz ebenso berücksichtigt, wie die auf realer Basis beruhenden, und daß er ferner nicht, wie jener, den Schmerz für das Positive und die Lust für das Negative erklärt, sondern Lust und Schmerz im Allgemeinen sich wie .8*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/65>, abgerufen am 26.06.2024.