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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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ohnehin ebensosehr sich zu stellen bereit ist, wie vor das der Philosophen.
Um aber eine Anschauung von dem zu geben, was den Verfasser beschäftigt,
führen wir aus seinen Erörterungen folgendes Beispiel an. Wenn ich mei¬
nen kleinen Finger hebe, so kann dies nur dadurch geschehen, daß ich im
Gehirn den Endpunkt der motorischen Nervenfasern errege, welche die im
Arm und Finger nöthige Muskelcontraction zu veranlassen haben. Solcher End¬
punkte gibt es viele im Gehirn, sie stellen gleichsam eine Claviatur vor,
deren Tasten wir anschlagen, wenn wir Muskelbewegungen ausführen wollen.
Haben wir aber von der Lage dieser Claviatur eine bewußte Vorstellung?
Nein, und doch spielen unsere Willensimpulse unablässig auf derselben, also
sitzt uns im Gehirn eine unbewußte Vorstellung dieser Verhältnisse; unserem
bewußten Wollen irgend einer Körperbewegung entspricht stets ein unbewußtes
Wollen der Erregung jener Endpunkte. Auf diese Weise arbeitet ein Wollen
und Vorstellen in unserer Leiblichkeit, von dem unser Bewußtsein keine
Ahnung hat. Aehnlich ist der Vorgang bei Jnstincthandlungen von Menschen
und Thieren, deren Jnstinct ist zweckmäßiges Handeln ohne Bewußtsein
des Zweckes. Welchen Gebieten die Dinge entnommen sind, die im Ab¬
schnitt L. "das Unbewußte im Geiste" zur Sprache kommen, mögen die Ca¬
pitelüberschriften zeigen. Es werden hier behandelt: der Jnstinct im mensch¬
lichen Geiste, das Unbewußte in der geschlechtlichen Liebe, -- im Gefühle. --
im Charakter und in der Sittlichkeit, -- im ästhetischen Urtheile und in der
künstlerischen Production, -- in der Entstehung der Sprache,-- im Denken, --
in der Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung, -- in der Mystik, -- in der
Geschichte. -- Aus dem dritten Theile, der Metaphysik des Unbewußten, stellen
wir die Lehre des Verfassers in folgenden Hauptpunkten zusammen.

Ueber der Welt und in der Welt, vor und nach Entstehung des
Weltprocesses ist Eine Substanz, der absolute unbewußte Geist, dessen
Attribute Wille und Vorstellung sind. Der Weltproceß beginnt indem
Wille und Vorstellung sich gegenseitig befruchten. Der absolut dumme und
blinde Wille bedarf der Vorstellung, um aus der reinen Potenz, die er ist,
zur Activität zu gelangen, er erfaßt nach einer Evolution, die ihn aus der
reinen Potenz in das Stadium des leeren Wollens (S. 688) versetzt, die
Vorstellung, das Logische, Ideale, während das Ideale, das an sich gar kein
Interesse hat, zu sein, zu werden, oder überhaupt aus sich herauszutreten,
dem Wollen sich hingibt. Nun erst entsteht die Realität der Dinge, denn
der Wille ist (S. 424) das Uebersetzen des Idealen ins Reale, er fügt dem
Idealen, seinem Inhalte, dasjenige hinzu, was dieses allein sich nicht geben
kann, die Realität. So setzt der Wille den Raum aus dem Idealen in's
Reale, d. h. er setzt den realen Raum, so entstehen ferner die Atomkräfte, die
durch räumliche Beziehungen sich als Anziehungs- (Körperatome) oder Ab-


ohnehin ebensosehr sich zu stellen bereit ist, wie vor das der Philosophen.
Um aber eine Anschauung von dem zu geben, was den Verfasser beschäftigt,
führen wir aus seinen Erörterungen folgendes Beispiel an. Wenn ich mei¬
nen kleinen Finger hebe, so kann dies nur dadurch geschehen, daß ich im
Gehirn den Endpunkt der motorischen Nervenfasern errege, welche die im
Arm und Finger nöthige Muskelcontraction zu veranlassen haben. Solcher End¬
punkte gibt es viele im Gehirn, sie stellen gleichsam eine Claviatur vor,
deren Tasten wir anschlagen, wenn wir Muskelbewegungen ausführen wollen.
Haben wir aber von der Lage dieser Claviatur eine bewußte Vorstellung?
Nein, und doch spielen unsere Willensimpulse unablässig auf derselben, also
sitzt uns im Gehirn eine unbewußte Vorstellung dieser Verhältnisse; unserem
bewußten Wollen irgend einer Körperbewegung entspricht stets ein unbewußtes
Wollen der Erregung jener Endpunkte. Auf diese Weise arbeitet ein Wollen
und Vorstellen in unserer Leiblichkeit, von dem unser Bewußtsein keine
Ahnung hat. Aehnlich ist der Vorgang bei Jnstincthandlungen von Menschen
und Thieren, deren Jnstinct ist zweckmäßiges Handeln ohne Bewußtsein
des Zweckes. Welchen Gebieten die Dinge entnommen sind, die im Ab¬
schnitt L. „das Unbewußte im Geiste" zur Sprache kommen, mögen die Ca¬
pitelüberschriften zeigen. Es werden hier behandelt: der Jnstinct im mensch¬
lichen Geiste, das Unbewußte in der geschlechtlichen Liebe, — im Gefühle. —
im Charakter und in der Sittlichkeit, — im ästhetischen Urtheile und in der
künstlerischen Production, — in der Entstehung der Sprache,— im Denken, —
in der Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung, — in der Mystik, — in der
Geschichte. — Aus dem dritten Theile, der Metaphysik des Unbewußten, stellen
wir die Lehre des Verfassers in folgenden Hauptpunkten zusammen.

Ueber der Welt und in der Welt, vor und nach Entstehung des
Weltprocesses ist Eine Substanz, der absolute unbewußte Geist, dessen
Attribute Wille und Vorstellung sind. Der Weltproceß beginnt indem
Wille und Vorstellung sich gegenseitig befruchten. Der absolut dumme und
blinde Wille bedarf der Vorstellung, um aus der reinen Potenz, die er ist,
zur Activität zu gelangen, er erfaßt nach einer Evolution, die ihn aus der
reinen Potenz in das Stadium des leeren Wollens (S. 688) versetzt, die
Vorstellung, das Logische, Ideale, während das Ideale, das an sich gar kein
Interesse hat, zu sein, zu werden, oder überhaupt aus sich herauszutreten,
dem Wollen sich hingibt. Nun erst entsteht die Realität der Dinge, denn
der Wille ist (S. 424) das Uebersetzen des Idealen ins Reale, er fügt dem
Idealen, seinem Inhalte, dasjenige hinzu, was dieses allein sich nicht geben
kann, die Realität. So setzt der Wille den Raum aus dem Idealen in's
Reale, d. h. er setzt den realen Raum, so entstehen ferner die Atomkräfte, die
durch räumliche Beziehungen sich als Anziehungs- (Körperatome) oder Ab-


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[0064] ohnehin ebensosehr sich zu stellen bereit ist, wie vor das der Philosophen. Um aber eine Anschauung von dem zu geben, was den Verfasser beschäftigt, führen wir aus seinen Erörterungen folgendes Beispiel an. Wenn ich mei¬ nen kleinen Finger hebe, so kann dies nur dadurch geschehen, daß ich im Gehirn den Endpunkt der motorischen Nervenfasern errege, welche die im Arm und Finger nöthige Muskelcontraction zu veranlassen haben. Solcher End¬ punkte gibt es viele im Gehirn, sie stellen gleichsam eine Claviatur vor, deren Tasten wir anschlagen, wenn wir Muskelbewegungen ausführen wollen. Haben wir aber von der Lage dieser Claviatur eine bewußte Vorstellung? Nein, und doch spielen unsere Willensimpulse unablässig auf derselben, also sitzt uns im Gehirn eine unbewußte Vorstellung dieser Verhältnisse; unserem bewußten Wollen irgend einer Körperbewegung entspricht stets ein unbewußtes Wollen der Erregung jener Endpunkte. Auf diese Weise arbeitet ein Wollen und Vorstellen in unserer Leiblichkeit, von dem unser Bewußtsein keine Ahnung hat. Aehnlich ist der Vorgang bei Jnstincthandlungen von Menschen und Thieren, deren Jnstinct ist zweckmäßiges Handeln ohne Bewußtsein des Zweckes. Welchen Gebieten die Dinge entnommen sind, die im Ab¬ schnitt L. „das Unbewußte im Geiste" zur Sprache kommen, mögen die Ca¬ pitelüberschriften zeigen. Es werden hier behandelt: der Jnstinct im mensch¬ lichen Geiste, das Unbewußte in der geschlechtlichen Liebe, — im Gefühle. — im Charakter und in der Sittlichkeit, — im ästhetischen Urtheile und in der künstlerischen Production, — in der Entstehung der Sprache,— im Denken, — in der Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung, — in der Mystik, — in der Geschichte. — Aus dem dritten Theile, der Metaphysik des Unbewußten, stellen wir die Lehre des Verfassers in folgenden Hauptpunkten zusammen. Ueber der Welt und in der Welt, vor und nach Entstehung des Weltprocesses ist Eine Substanz, der absolute unbewußte Geist, dessen Attribute Wille und Vorstellung sind. Der Weltproceß beginnt indem Wille und Vorstellung sich gegenseitig befruchten. Der absolut dumme und blinde Wille bedarf der Vorstellung, um aus der reinen Potenz, die er ist, zur Activität zu gelangen, er erfaßt nach einer Evolution, die ihn aus der reinen Potenz in das Stadium des leeren Wollens (S. 688) versetzt, die Vorstellung, das Logische, Ideale, während das Ideale, das an sich gar kein Interesse hat, zu sein, zu werden, oder überhaupt aus sich herauszutreten, dem Wollen sich hingibt. Nun erst entsteht die Realität der Dinge, denn der Wille ist (S. 424) das Uebersetzen des Idealen ins Reale, er fügt dem Idealen, seinem Inhalte, dasjenige hinzu, was dieses allein sich nicht geben kann, die Realität. So setzt der Wille den Raum aus dem Idealen in's Reale, d. h. er setzt den realen Raum, so entstehen ferner die Atomkräfte, die durch räumliche Beziehungen sich als Anziehungs- (Körperatome) oder Ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/64>, abgerufen am 26.06.2024.