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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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keime in und zu neuen Systembildungen, eine Aufgabe, die offenbar nur ein
jüngerer Philosoph lösen kann. Von diesem Gesichtspunkt aus begrüßen wir
das Erscheinen eines Werks, welches diese Aufgabe in Angriff nimmt; wir
begrüßen es um so freudiger, da es als kecker, kühner Wurf in die philo¬
sophische Stagnation unserer Zeit hineinfällt, ein neues fruchtbares Problem
in die philosophische Betrachtung hineinzieht, und wenn nicht eine befriedi¬
gende Lösung desselben, so doch vielversprechende Anfänge zu einer solchen
bringt. Welches die Tragweite der neuen philosophischen Weltanschauung sein
wird, muß die Zukunft lehren; darum wollen wir nicht hier und nicht schon
jetzt in eine erschöpfende Besprechung derselben eintreten, sondern den Leser
nur im Allgemeinen über dieselbe zu orientiren versuchen, indem wir den In¬
halt des oben bezeichneten Werkes in seinen Hauptpunkten darlegen und
daran einige der Sache selbst entnommene kritische Bemerkungen knüpfen.

Die "Philosophie des Unbewußten" beginnt mit den Worten Kant's:
"Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin
scheint ein Widerspruch zu liegen, denn wie können wir wissen, daß wir sie
haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind. -- Allein wir können uns
doch mittelbar bewußt sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich un¬
mittelbar uns ihrer nicht bewußt sind." (Anthropologie §. 5.) Diesen Ge¬
danken Kant's belegt und erweitert der Verfasser durch eine reiche Samm¬
lung von Thatsachen, aus denen er sodann in inductiver Methode die eige¬
nen metaphysischen Resultate zieht. Das Buch zerfällt nach einer Einleitung,
welche die 'Aufgabe, die Methode, die Vorgänger bespricht und viertens den
Zweckbegriff rechtfertigt (S. 1--35), in drei Abschnitte: die Erscheinung
des Unbewußten in der Leiblichkeit (S. 39--153), L, das Unbewußte im
Geiste (S. 157--315). L. Metaphysik des Unbewußten (S. 319--678). In den
ersten beiden Abschnitten sind aus der Menschen-. Thier- und Pflanzenwelt
die Thatsachen zusammengetragen, in denen die Macht des Unbewußten, d. h.
unbewußter Wille und unbewußte Vorstellung nach des Verfassers Ansicht
sich wirksam zeigt. Wille und Vorstellung nämlich sind die constituirenden
Theile des Unbewußten. Nicht ist, wie bei Schopenhauer, die Vorstellung
-- Hirnproduct, also ein Subjektives, und der Wille allein ein Objectives,
Metaphysisches, sondern Wille und Vorstellung gehören bei Hartmann zu
einander wie die Pole des Magnets, nur der Wille ist, der etwas will,
und das Etwas oder den Inhalt liefert dem Willen die Vorstellung.
Unter den Thatsachen, welche im Abschnitt ^. zusammengestellt sind, spielen
Jnstinct. Hellsehen, Naturheilkraft und eine weite Fassung des Begriffs Re-
flexbewegung eine entscheidende Rolle; wir müssen die erneuerte Prüfung der¬
selben den Naturwissenschaftern überlassen, vor deren Forum der Verfasser


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keime in und zu neuen Systembildungen, eine Aufgabe, die offenbar nur ein
jüngerer Philosoph lösen kann. Von diesem Gesichtspunkt aus begrüßen wir
das Erscheinen eines Werks, welches diese Aufgabe in Angriff nimmt; wir
begrüßen es um so freudiger, da es als kecker, kühner Wurf in die philo¬
sophische Stagnation unserer Zeit hineinfällt, ein neues fruchtbares Problem
in die philosophische Betrachtung hineinzieht, und wenn nicht eine befriedi¬
gende Lösung desselben, so doch vielversprechende Anfänge zu einer solchen
bringt. Welches die Tragweite der neuen philosophischen Weltanschauung sein
wird, muß die Zukunft lehren; darum wollen wir nicht hier und nicht schon
jetzt in eine erschöpfende Besprechung derselben eintreten, sondern den Leser
nur im Allgemeinen über dieselbe zu orientiren versuchen, indem wir den In¬
halt des oben bezeichneten Werkes in seinen Hauptpunkten darlegen und
daran einige der Sache selbst entnommene kritische Bemerkungen knüpfen.

Die „Philosophie des Unbewußten" beginnt mit den Worten Kant's:
„Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin
scheint ein Widerspruch zu liegen, denn wie können wir wissen, daß wir sie
haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind. — Allein wir können uns
doch mittelbar bewußt sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich un¬
mittelbar uns ihrer nicht bewußt sind." (Anthropologie §. 5.) Diesen Ge¬
danken Kant's belegt und erweitert der Verfasser durch eine reiche Samm¬
lung von Thatsachen, aus denen er sodann in inductiver Methode die eige¬
nen metaphysischen Resultate zieht. Das Buch zerfällt nach einer Einleitung,
welche die 'Aufgabe, die Methode, die Vorgänger bespricht und viertens den
Zweckbegriff rechtfertigt (S. 1—35), in drei Abschnitte: die Erscheinung
des Unbewußten in der Leiblichkeit (S. 39—153), L, das Unbewußte im
Geiste (S. 157—315). L. Metaphysik des Unbewußten (S. 319—678). In den
ersten beiden Abschnitten sind aus der Menschen-. Thier- und Pflanzenwelt
die Thatsachen zusammengetragen, in denen die Macht des Unbewußten, d. h.
unbewußter Wille und unbewußte Vorstellung nach des Verfassers Ansicht
sich wirksam zeigt. Wille und Vorstellung nämlich sind die constituirenden
Theile des Unbewußten. Nicht ist, wie bei Schopenhauer, die Vorstellung
— Hirnproduct, also ein Subjektives, und der Wille allein ein Objectives,
Metaphysisches, sondern Wille und Vorstellung gehören bei Hartmann zu
einander wie die Pole des Magnets, nur der Wille ist, der etwas will,
und das Etwas oder den Inhalt liefert dem Willen die Vorstellung.
Unter den Thatsachen, welche im Abschnitt ^. zusammengestellt sind, spielen
Jnstinct. Hellsehen, Naturheilkraft und eine weite Fassung des Begriffs Re-
flexbewegung eine entscheidende Rolle; wir müssen die erneuerte Prüfung der¬
selben den Naturwissenschaftern überlassen, vor deren Forum der Verfasser


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[0063] keime in und zu neuen Systembildungen, eine Aufgabe, die offenbar nur ein jüngerer Philosoph lösen kann. Von diesem Gesichtspunkt aus begrüßen wir das Erscheinen eines Werks, welches diese Aufgabe in Angriff nimmt; wir begrüßen es um so freudiger, da es als kecker, kühner Wurf in die philo¬ sophische Stagnation unserer Zeit hineinfällt, ein neues fruchtbares Problem in die philosophische Betrachtung hineinzieht, und wenn nicht eine befriedi¬ gende Lösung desselben, so doch vielversprechende Anfänge zu einer solchen bringt. Welches die Tragweite der neuen philosophischen Weltanschauung sein wird, muß die Zukunft lehren; darum wollen wir nicht hier und nicht schon jetzt in eine erschöpfende Besprechung derselben eintreten, sondern den Leser nur im Allgemeinen über dieselbe zu orientiren versuchen, indem wir den In¬ halt des oben bezeichneten Werkes in seinen Hauptpunkten darlegen und daran einige der Sache selbst entnommene kritische Bemerkungen knüpfen. Die „Philosophie des Unbewußten" beginnt mit den Worten Kant's: „Vorstellungen zu haben und sich ihrer doch nicht bewußt zu sein, darin scheint ein Widerspruch zu liegen, denn wie können wir wissen, daß wir sie haben, wenn wir uns ihrer nicht bewußt sind. — Allein wir können uns doch mittelbar bewußt sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich un¬ mittelbar uns ihrer nicht bewußt sind." (Anthropologie §. 5.) Diesen Ge¬ danken Kant's belegt und erweitert der Verfasser durch eine reiche Samm¬ lung von Thatsachen, aus denen er sodann in inductiver Methode die eige¬ nen metaphysischen Resultate zieht. Das Buch zerfällt nach einer Einleitung, welche die 'Aufgabe, die Methode, die Vorgänger bespricht und viertens den Zweckbegriff rechtfertigt (S. 1—35), in drei Abschnitte: die Erscheinung des Unbewußten in der Leiblichkeit (S. 39—153), L, das Unbewußte im Geiste (S. 157—315). L. Metaphysik des Unbewußten (S. 319—678). In den ersten beiden Abschnitten sind aus der Menschen-. Thier- und Pflanzenwelt die Thatsachen zusammengetragen, in denen die Macht des Unbewußten, d. h. unbewußter Wille und unbewußte Vorstellung nach des Verfassers Ansicht sich wirksam zeigt. Wille und Vorstellung nämlich sind die constituirenden Theile des Unbewußten. Nicht ist, wie bei Schopenhauer, die Vorstellung — Hirnproduct, also ein Subjektives, und der Wille allein ein Objectives, Metaphysisches, sondern Wille und Vorstellung gehören bei Hartmann zu einander wie die Pole des Magnets, nur der Wille ist, der etwas will, und das Etwas oder den Inhalt liefert dem Willen die Vorstellung. Unter den Thatsachen, welche im Abschnitt ^. zusammengestellt sind, spielen Jnstinct. Hellsehen, Naturheilkraft und eine weite Fassung des Begriffs Re- flexbewegung eine entscheidende Rolle; wir müssen die erneuerte Prüfung der¬ selben den Naturwissenschaftern überlassen, vor deren Forum der Verfasser Grcnjvotcn I. 1S70. 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/63>, abgerufen am 26.06.2024.