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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Ein neues philosophisches Werk.

Hartmann, Dr. E. v,, Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Welt¬
anschauung. Berlin, 1869. C. Duncker. (L78 S. gr. 8.)

Es war nicht zu verwundern, daß in der Zeit der Reaction, in den
fünfziger Jahren, die Schopenhauer'sche Philosophie ihre späten Triumphe
feierte. Ein Theil der philosophisch geschulten Köpfe unserer Nation befand
sich in einer restgnirenden, verzweifelnden Stimmung, der andere warf sich
mit aller Kraft in eine aufreibende politische Thätigkeit, um den Strom der
Reaction zu dämmen, so gut es gehen wollte. Den harmonischen "Aus¬
hebungen" aber der idealen Identitätsphilosophie war zum Theil schon vor,
sehr gründlich nach den realen Disharmonien des Jahres 1848 der Zauber
abgestreift, mit dem sie einst die Geister beherrscht hatten. Da konnte nun
das philosophische Interregnum eines Systems eintreten, welches die Ent¬
täuschten auf eine geistreiche Weise die Welt verachten, die Thatkräftigen
das treibende Agens der Welt, den Willen, besser als irgend ein anderes
System beachten lehrte. Es kam dazu, daß dies System mit seiner materia¬
listischen Erklärung der menschlichen Denkthätigkeit sehr gut einer Richtung
der Geister entsprach, welche durch gewisse Ausläufer des Hegelianismus
einerseits und die Fortschritte der Naturwissenschaften andererseits vorbereitet
war. und es konnte bei der blinden Vorliebe der Einen (die nicht wenig auch
durch die menschlich anmuthende Sprache des Frankfurter Philosophen be¬
dingt war), bei der geistigen Müdigkeit der Anderen und der ruhelosen prac-
tischen Thätigkeit der Dritten wohl geschehen, daß die sehr unkritischen und
widerspruchsvollen Grundlagen des beliebten Systems übersehen wurden. In
dieses System aber hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten der überhaupt
für philosophische Studien empfängliche Theil unserer academischen Jugend
mehr oder weniger hineingearbeitet, und dem aus dieser Jugend heranwachsen¬
den oder herangewachsenen Männergeschlecht fällt daher naturgemäß die Auf¬
gabe zu. dies System wissenschaftlich zu überwinden. Das kann nicht ge¬
schehen in der Weise älterer Philosophen, die entweder vom Standpunkte
positiver eigener, von Schopenhauer'sehen Einfluß unberührt gebliebener Systeme
sich kritisch ablehnend gegen Letzteren verhielten, wie Herbart gleich beim
Erscheinen des Schopenhauer'schen Hauptwerkes, oder die Kritik gegen Schopen¬
hauer einfach aus den Widersprüchen des Letzteren selbst führten, wie vor
Kurzem noch R. Haym (Vgl. preußische Jahrbücher 1864) w seiner be¬
kannten geistreichen, genetisch-interpretirenden Weise, sondern die wirklich¬
wissenschaftliche Ueberwindung Schopenhauer's wird und muß geschehen durch
Nutzbarmachung der auch bet ihm vorhandenen gesunden, echten Gedanken-


Ein neues philosophisches Werk.

Hartmann, Dr. E. v,, Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Welt¬
anschauung. Berlin, 1869. C. Duncker. (L78 S. gr. 8.)

Es war nicht zu verwundern, daß in der Zeit der Reaction, in den
fünfziger Jahren, die Schopenhauer'sche Philosophie ihre späten Triumphe
feierte. Ein Theil der philosophisch geschulten Köpfe unserer Nation befand
sich in einer restgnirenden, verzweifelnden Stimmung, der andere warf sich
mit aller Kraft in eine aufreibende politische Thätigkeit, um den Strom der
Reaction zu dämmen, so gut es gehen wollte. Den harmonischen „Aus¬
hebungen" aber der idealen Identitätsphilosophie war zum Theil schon vor,
sehr gründlich nach den realen Disharmonien des Jahres 1848 der Zauber
abgestreift, mit dem sie einst die Geister beherrscht hatten. Da konnte nun
das philosophische Interregnum eines Systems eintreten, welches die Ent¬
täuschten auf eine geistreiche Weise die Welt verachten, die Thatkräftigen
das treibende Agens der Welt, den Willen, besser als irgend ein anderes
System beachten lehrte. Es kam dazu, daß dies System mit seiner materia¬
listischen Erklärung der menschlichen Denkthätigkeit sehr gut einer Richtung
der Geister entsprach, welche durch gewisse Ausläufer des Hegelianismus
einerseits und die Fortschritte der Naturwissenschaften andererseits vorbereitet
war. und es konnte bei der blinden Vorliebe der Einen (die nicht wenig auch
durch die menschlich anmuthende Sprache des Frankfurter Philosophen be¬
dingt war), bei der geistigen Müdigkeit der Anderen und der ruhelosen prac-
tischen Thätigkeit der Dritten wohl geschehen, daß die sehr unkritischen und
widerspruchsvollen Grundlagen des beliebten Systems übersehen wurden. In
dieses System aber hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten der überhaupt
für philosophische Studien empfängliche Theil unserer academischen Jugend
mehr oder weniger hineingearbeitet, und dem aus dieser Jugend heranwachsen¬
den oder herangewachsenen Männergeschlecht fällt daher naturgemäß die Auf¬
gabe zu. dies System wissenschaftlich zu überwinden. Das kann nicht ge¬
schehen in der Weise älterer Philosophen, die entweder vom Standpunkte
positiver eigener, von Schopenhauer'sehen Einfluß unberührt gebliebener Systeme
sich kritisch ablehnend gegen Letzteren verhielten, wie Herbart gleich beim
Erscheinen des Schopenhauer'schen Hauptwerkes, oder die Kritik gegen Schopen¬
hauer einfach aus den Widersprüchen des Letzteren selbst führten, wie vor
Kurzem noch R. Haym (Vgl. preußische Jahrbücher 1864) w seiner be¬
kannten geistreichen, genetisch-interpretirenden Weise, sondern die wirklich¬
wissenschaftliche Ueberwindung Schopenhauer's wird und muß geschehen durch
Nutzbarmachung der auch bet ihm vorhandenen gesunden, echten Gedanken-


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[0062] Ein neues philosophisches Werk. Hartmann, Dr. E. v,, Philosophie des Unbewußten. Versuch einer Welt¬ anschauung. Berlin, 1869. C. Duncker. (L78 S. gr. 8.) Es war nicht zu verwundern, daß in der Zeit der Reaction, in den fünfziger Jahren, die Schopenhauer'sche Philosophie ihre späten Triumphe feierte. Ein Theil der philosophisch geschulten Köpfe unserer Nation befand sich in einer restgnirenden, verzweifelnden Stimmung, der andere warf sich mit aller Kraft in eine aufreibende politische Thätigkeit, um den Strom der Reaction zu dämmen, so gut es gehen wollte. Den harmonischen „Aus¬ hebungen" aber der idealen Identitätsphilosophie war zum Theil schon vor, sehr gründlich nach den realen Disharmonien des Jahres 1848 der Zauber abgestreift, mit dem sie einst die Geister beherrscht hatten. Da konnte nun das philosophische Interregnum eines Systems eintreten, welches die Ent¬ täuschten auf eine geistreiche Weise die Welt verachten, die Thatkräftigen das treibende Agens der Welt, den Willen, besser als irgend ein anderes System beachten lehrte. Es kam dazu, daß dies System mit seiner materia¬ listischen Erklärung der menschlichen Denkthätigkeit sehr gut einer Richtung der Geister entsprach, welche durch gewisse Ausläufer des Hegelianismus einerseits und die Fortschritte der Naturwissenschaften andererseits vorbereitet war. und es konnte bei der blinden Vorliebe der Einen (die nicht wenig auch durch die menschlich anmuthende Sprache des Frankfurter Philosophen be¬ dingt war), bei der geistigen Müdigkeit der Anderen und der ruhelosen prac- tischen Thätigkeit der Dritten wohl geschehen, daß die sehr unkritischen und widerspruchsvollen Grundlagen des beliebten Systems übersehen wurden. In dieses System aber hat sich in den beiden letzten Jahrzehnten der überhaupt für philosophische Studien empfängliche Theil unserer academischen Jugend mehr oder weniger hineingearbeitet, und dem aus dieser Jugend heranwachsen¬ den oder herangewachsenen Männergeschlecht fällt daher naturgemäß die Auf¬ gabe zu. dies System wissenschaftlich zu überwinden. Das kann nicht ge¬ schehen in der Weise älterer Philosophen, die entweder vom Standpunkte positiver eigener, von Schopenhauer'sehen Einfluß unberührt gebliebener Systeme sich kritisch ablehnend gegen Letzteren verhielten, wie Herbart gleich beim Erscheinen des Schopenhauer'schen Hauptwerkes, oder die Kritik gegen Schopen¬ hauer einfach aus den Widersprüchen des Letzteren selbst führten, wie vor Kurzem noch R. Haym (Vgl. preußische Jahrbücher 1864) w seiner be¬ kannten geistreichen, genetisch-interpretirenden Weise, sondern die wirklich¬ wissenschaftliche Ueberwindung Schopenhauer's wird und muß geschehen durch Nutzbarmachung der auch bet ihm vorhandenen gesunden, echten Gedanken-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/62>, abgerufen am 26.06.2024.