Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.klärte Nihilistenverschwörung in den Hintergrund der Regierungssorgen Daß die seit den letzten sieben Jahren verfolgte russische Vergewaltigungs¬ 65*
klärte Nihilistenverschwörung in den Hintergrund der Regierungssorgen Daß die seit den letzten sieben Jahren verfolgte russische Vergewaltigungs¬ 65*
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0521" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123609"/> <p xml:id="ID_1497" prev="#ID_1496"> klärte Nihilistenverschwörung in den Hintergrund der Regierungssorgen<lb/> getreten ist, spielt die Beschäftigung mit den ziemlich deplorablen ländlichen<lb/> Verhältnissen Rußlands wieder eine große Rolle. Am 19. Februar (3. März)<lb/> d. I. war die neunjährige Uebergangsfrist, welche den Zustand vollständiger<lb/> Unfreiheit mit dem ebenso unbeschränkter Freiheit der Bauern vermitteln<lb/> sollte, abgelaufen und alle Welt sah der prophezeiten großen Wanderung<lb/> aus dem unfruchtbaren Norden in den reichen Süden mit Spannung ent¬<lb/> gegen. Absolute Regierungen wissen sich in solchen Fällen leichter zu helfen,<lb/> als durch feste Rechtsnormen gebundene konstitutionelle Ministerien; die Pro-<lb/> vinzial-Gouverneure sind angewiesen worden, den Bauern Nordrußlands das<lb/> Verlassen ihrer Nahrungsstellen „auf administrativen Wege" abzuschneiden,<lb/> beziehungsweise nach Kräften zu erschweren. Für eine Weile wird das wohl<lb/> vorhalten und das Weitere wird man in Erwägung ziehen, wenn man nicht<lb/> anders kann, vielleicht wenn es zu spät ist. — Das große Publikum ist im<lb/> Augenblick mit der Erweiterung des Eisenbahnnetzes (der Millionär Lasarew<lb/> hat die Concession zu einer Schienenverbindung des Aralsees mit dem Kaspischen<lb/> Meer erworben) und mit gewissen Maßregeln gegen die Ostseeprovinzen eifrig<lb/> beschäftigt. Es soll nicht nur dem deutschen Schulwesen dieser Provinzen,<lb/> sondern auch dem keltisch-chemischen Volksunterricht, der bisher unter Leitung<lb/> der Ritterschaften und der lutherischen Geistlichkeit stand, ernstlich zu Leibe<lb/> gegangen und dadurch das deutsch-protestantische Uebel an die Wurzel gefaßt<lb/> worden. Die von den Liv-Est-Kurlcindern unternommenen Versuche zur Wah¬<lb/> rung ihrer überkommenen Sprache, Kirche und Verfassung haben eine neue<lb/> Niederlage erlitten; wie die Petersburger Blätter melden, ist die von dem<lb/> livländischen Landtage beschlossene Rechtsbewahrung auch dieses Mal vom<lb/> Kaiser zurückgewiesen worden — es scheint den Bewohnern der baltischen<lb/> Küste soll das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Regierung ein für alle<lb/> Mal benommen werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1498" next="#ID_1499"> Daß die seit den letzten sieben Jahren verfolgte russische Vergewaltigungs¬<lb/> politik der Hauptgrund für die instinctive Abneigung aller europäischen Cul¬<lb/> turvölker gegen Bündnisse mit der Petersburger Regierung ist, beginnt man<lb/> übrigens auch in Petersburg und Moskau allmälig einzusehen. Zunächst<lb/> freilich im Hinblick auf Frankreich, wo das todtgesagte Polen noch immer<lb/> mächtig genug ist, um eine russische Alliance unmöglich zu machen. Von<lb/> England weiß man sich für alle Zeiten durch Verschiedenheit der Interessen<lb/> im europäischen und asiatischen Osten geschieden und wesentlich aus die¬<lb/> sem Grunde macht die russische Presse von ihrer Schadenfreude über die zuneh¬<lb/> mende Verwirrung in Irland kein Hehl. In der That gewinnt dieselbe<lb/> immer bedrohlichere Proportionen und der wilde Haß der irländischen Land¬<lb/> bevölkerung gegen den herrschenden und besitzenden Stamm steht in</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> 65*</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0521]
klärte Nihilistenverschwörung in den Hintergrund der Regierungssorgen
getreten ist, spielt die Beschäftigung mit den ziemlich deplorablen ländlichen
Verhältnissen Rußlands wieder eine große Rolle. Am 19. Februar (3. März)
d. I. war die neunjährige Uebergangsfrist, welche den Zustand vollständiger
Unfreiheit mit dem ebenso unbeschränkter Freiheit der Bauern vermitteln
sollte, abgelaufen und alle Welt sah der prophezeiten großen Wanderung
aus dem unfruchtbaren Norden in den reichen Süden mit Spannung ent¬
gegen. Absolute Regierungen wissen sich in solchen Fällen leichter zu helfen,
als durch feste Rechtsnormen gebundene konstitutionelle Ministerien; die Pro-
vinzial-Gouverneure sind angewiesen worden, den Bauern Nordrußlands das
Verlassen ihrer Nahrungsstellen „auf administrativen Wege" abzuschneiden,
beziehungsweise nach Kräften zu erschweren. Für eine Weile wird das wohl
vorhalten und das Weitere wird man in Erwägung ziehen, wenn man nicht
anders kann, vielleicht wenn es zu spät ist. — Das große Publikum ist im
Augenblick mit der Erweiterung des Eisenbahnnetzes (der Millionär Lasarew
hat die Concession zu einer Schienenverbindung des Aralsees mit dem Kaspischen
Meer erworben) und mit gewissen Maßregeln gegen die Ostseeprovinzen eifrig
beschäftigt. Es soll nicht nur dem deutschen Schulwesen dieser Provinzen,
sondern auch dem keltisch-chemischen Volksunterricht, der bisher unter Leitung
der Ritterschaften und der lutherischen Geistlichkeit stand, ernstlich zu Leibe
gegangen und dadurch das deutsch-protestantische Uebel an die Wurzel gefaßt
worden. Die von den Liv-Est-Kurlcindern unternommenen Versuche zur Wah¬
rung ihrer überkommenen Sprache, Kirche und Verfassung haben eine neue
Niederlage erlitten; wie die Petersburger Blätter melden, ist die von dem
livländischen Landtage beschlossene Rechtsbewahrung auch dieses Mal vom
Kaiser zurückgewiesen worden — es scheint den Bewohnern der baltischen
Küste soll das Vertrauen in die Unparteilichkeit der Regierung ein für alle
Mal benommen werden.
Daß die seit den letzten sieben Jahren verfolgte russische Vergewaltigungs¬
politik der Hauptgrund für die instinctive Abneigung aller europäischen Cul¬
turvölker gegen Bündnisse mit der Petersburger Regierung ist, beginnt man
übrigens auch in Petersburg und Moskau allmälig einzusehen. Zunächst
freilich im Hinblick auf Frankreich, wo das todtgesagte Polen noch immer
mächtig genug ist, um eine russische Alliance unmöglich zu machen. Von
England weiß man sich für alle Zeiten durch Verschiedenheit der Interessen
im europäischen und asiatischen Osten geschieden und wesentlich aus die¬
sem Grunde macht die russische Presse von ihrer Schadenfreude über die zuneh¬
mende Verwirrung in Irland kein Hehl. In der That gewinnt dieselbe
immer bedrohlichere Proportionen und der wilde Haß der irländischen Land¬
bevölkerung gegen den herrschenden und besitzenden Stamm steht in
65*
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |