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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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erklärt, von ihrer Oberherrlichkeit über die armenische Kirche nichts vergeben
und den bezüglichen Ansprüchen der Curie zu ihrem Bedauern (Papst und
Sultan sehen sich bekanntlich als Bundesgenossen gegen Moskau an) keine
Zugeständnisse machen zu können. -- Die Versuche Roms, die Macht¬
sphäre des armenischen Patriarchen zu beschränken, sind bekanntlich bei allen
Gläubigen dieser Gemeinschaft auf entschiedenen Widerstand gestoßen und
haben viel böses Blut gemacht.

Aus seiner Zurückhaltung in Sachen auswärtiger Politik ist Rußland
auch während des abgelaufenen Monats nicht heraus getreten. Einen Augenblick
schien es, als habe die in Paris erschienene, vom Brüsseler "Nord" patroni-
sirte Brochure "I/imxs,W6 xolitiqus" mit ihren russisch-französischen Alliance-
wünschen die Bedeutung eines nach Westen ausgeworfenen russischen Fühlers.
Ein Dementi des ^vurna.1 Ah Ls-int ketsrsdourA hat die Fabel von dem
offiziösen Ursprung dieser Schrift widerlegt, das Gerede über dieselbe nur den
einen Effect gehabt, die Sympathien der gesammten russischen Presse für ein
russisch-französisches Zusammenstehen gegen Preußen zu constatiren. Ohne
Unterschied der Parteifarbe haben die in Moskau und Petersburg erscheinen-
den Zeitungen erklärt, ein gegen den zunehmenden Einfluß der deutschen
Raxe gerichtetes Bündniß mit Frankreich habe, weil es den russischen natto-
"aler Interessen entspreche, auf die Sympathien des gesammten Volks zu rech¬
nen. Freilich haben diese Organe der öffentlichen Meinung zugleich eingestehen
müssen, daß das Gespenst der polnischen Frage zur Zeit noch zwischen Ru߬
land und den westeuropäischen Culturvölkern stehe und daß eine dauernde
Entente zwischen den Romanows und den napoleoniden erst möglich sein
werde, wenn die Wiederkehr polnischer Aufstände auch moralisch unmöglich
geworden; außerdem gilt eine vorläufige Einigung über die orientalische
Frage für die selbstverständliche eouÄitiv sine Mg, non. -- Bis zur Erreichung
dieser beiden Vorbedingungen hat es gute Wege und so lange die Mainlinie
nicht überschritten wird, haben wir das Bündniß unserer westlichen mit un¬
seren östlichen Nachbarn nicht zu fürchten: je später die süddeutsche Frage
gelöst wird, desto weniger haben aber wir für diese Eventualität auf russische
Freundschaft zu rechnen. -- Gegenwärtig bleiben in dem Lande jenseit der
Weichsel, die inneren Angelegenheiten nach wie vor aus der Tagesordnung.
Die große Frage nach der sprachlichen Zukunft der polnisch-katholischen Kirche
ist endlich gelöst worden; man hat sich damit begnügt, die Einführung der
russischen Sprache in die katholischen Gottesdienste von dem Belieben der
einzelnen Gemeinden abhängig zu machen und damit ziemlich unverblümt
eingestanden, daß die Furcht vor dem religiösen Fanatismus des polnischen,
weiß- und kleinrussischen Landvolks noch größer ist, als die Lust an brutalen
Vergewaltigungen. -- Seit die vielbesprochene, noch immer nicht ganz ausge-


erklärt, von ihrer Oberherrlichkeit über die armenische Kirche nichts vergeben
und den bezüglichen Ansprüchen der Curie zu ihrem Bedauern (Papst und
Sultan sehen sich bekanntlich als Bundesgenossen gegen Moskau an) keine
Zugeständnisse machen zu können. — Die Versuche Roms, die Macht¬
sphäre des armenischen Patriarchen zu beschränken, sind bekanntlich bei allen
Gläubigen dieser Gemeinschaft auf entschiedenen Widerstand gestoßen und
haben viel böses Blut gemacht.

Aus seiner Zurückhaltung in Sachen auswärtiger Politik ist Rußland
auch während des abgelaufenen Monats nicht heraus getreten. Einen Augenblick
schien es, als habe die in Paris erschienene, vom Brüsseler „Nord" patroni-
sirte Brochure „I/imxs,W6 xolitiqus" mit ihren russisch-französischen Alliance-
wünschen die Bedeutung eines nach Westen ausgeworfenen russischen Fühlers.
Ein Dementi des ^vurna.1 Ah Ls-int ketsrsdourA hat die Fabel von dem
offiziösen Ursprung dieser Schrift widerlegt, das Gerede über dieselbe nur den
einen Effect gehabt, die Sympathien der gesammten russischen Presse für ein
russisch-französisches Zusammenstehen gegen Preußen zu constatiren. Ohne
Unterschied der Parteifarbe haben die in Moskau und Petersburg erscheinen-
den Zeitungen erklärt, ein gegen den zunehmenden Einfluß der deutschen
Raxe gerichtetes Bündniß mit Frankreich habe, weil es den russischen natto-
«aler Interessen entspreche, auf die Sympathien des gesammten Volks zu rech¬
nen. Freilich haben diese Organe der öffentlichen Meinung zugleich eingestehen
müssen, daß das Gespenst der polnischen Frage zur Zeit noch zwischen Ru߬
land und den westeuropäischen Culturvölkern stehe und daß eine dauernde
Entente zwischen den Romanows und den napoleoniden erst möglich sein
werde, wenn die Wiederkehr polnischer Aufstände auch moralisch unmöglich
geworden; außerdem gilt eine vorläufige Einigung über die orientalische
Frage für die selbstverständliche eouÄitiv sine Mg, non. — Bis zur Erreichung
dieser beiden Vorbedingungen hat es gute Wege und so lange die Mainlinie
nicht überschritten wird, haben wir das Bündniß unserer westlichen mit un¬
seren östlichen Nachbarn nicht zu fürchten: je später die süddeutsche Frage
gelöst wird, desto weniger haben aber wir für diese Eventualität auf russische
Freundschaft zu rechnen. — Gegenwärtig bleiben in dem Lande jenseit der
Weichsel, die inneren Angelegenheiten nach wie vor aus der Tagesordnung.
Die große Frage nach der sprachlichen Zukunft der polnisch-katholischen Kirche
ist endlich gelöst worden; man hat sich damit begnügt, die Einführung der
russischen Sprache in die katholischen Gottesdienste von dem Belieben der
einzelnen Gemeinden abhängig zu machen und damit ziemlich unverblümt
eingestanden, daß die Furcht vor dem religiösen Fanatismus des polnischen,
weiß- und kleinrussischen Landvolks noch größer ist, als die Lust an brutalen
Vergewaltigungen. — Seit die vielbesprochene, noch immer nicht ganz ausge-


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[0520] erklärt, von ihrer Oberherrlichkeit über die armenische Kirche nichts vergeben und den bezüglichen Ansprüchen der Curie zu ihrem Bedauern (Papst und Sultan sehen sich bekanntlich als Bundesgenossen gegen Moskau an) keine Zugeständnisse machen zu können. — Die Versuche Roms, die Macht¬ sphäre des armenischen Patriarchen zu beschränken, sind bekanntlich bei allen Gläubigen dieser Gemeinschaft auf entschiedenen Widerstand gestoßen und haben viel böses Blut gemacht. Aus seiner Zurückhaltung in Sachen auswärtiger Politik ist Rußland auch während des abgelaufenen Monats nicht heraus getreten. Einen Augenblick schien es, als habe die in Paris erschienene, vom Brüsseler „Nord" patroni- sirte Brochure „I/imxs,W6 xolitiqus" mit ihren russisch-französischen Alliance- wünschen die Bedeutung eines nach Westen ausgeworfenen russischen Fühlers. Ein Dementi des ^vurna.1 Ah Ls-int ketsrsdourA hat die Fabel von dem offiziösen Ursprung dieser Schrift widerlegt, das Gerede über dieselbe nur den einen Effect gehabt, die Sympathien der gesammten russischen Presse für ein russisch-französisches Zusammenstehen gegen Preußen zu constatiren. Ohne Unterschied der Parteifarbe haben die in Moskau und Petersburg erscheinen- den Zeitungen erklärt, ein gegen den zunehmenden Einfluß der deutschen Raxe gerichtetes Bündniß mit Frankreich habe, weil es den russischen natto- «aler Interessen entspreche, auf die Sympathien des gesammten Volks zu rech¬ nen. Freilich haben diese Organe der öffentlichen Meinung zugleich eingestehen müssen, daß das Gespenst der polnischen Frage zur Zeit noch zwischen Ru߬ land und den westeuropäischen Culturvölkern stehe und daß eine dauernde Entente zwischen den Romanows und den napoleoniden erst möglich sein werde, wenn die Wiederkehr polnischer Aufstände auch moralisch unmöglich geworden; außerdem gilt eine vorläufige Einigung über die orientalische Frage für die selbstverständliche eouÄitiv sine Mg, non. — Bis zur Erreichung dieser beiden Vorbedingungen hat es gute Wege und so lange die Mainlinie nicht überschritten wird, haben wir das Bündniß unserer westlichen mit un¬ seren östlichen Nachbarn nicht zu fürchten: je später die süddeutsche Frage gelöst wird, desto weniger haben aber wir für diese Eventualität auf russische Freundschaft zu rechnen. — Gegenwärtig bleiben in dem Lande jenseit der Weichsel, die inneren Angelegenheiten nach wie vor aus der Tagesordnung. Die große Frage nach der sprachlichen Zukunft der polnisch-katholischen Kirche ist endlich gelöst worden; man hat sich damit begnügt, die Einführung der russischen Sprache in die katholischen Gottesdienste von dem Belieben der einzelnen Gemeinden abhängig zu machen und damit ziemlich unverblümt eingestanden, daß die Furcht vor dem religiösen Fanatismus des polnischen, weiß- und kleinrussischen Landvolks noch größer ist, als die Lust an brutalen Vergewaltigungen. — Seit die vielbesprochene, noch immer nicht ganz ausge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/520>, abgerufen am 26.06.2024.