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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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bigern an die bayrische Concursmasse werden in der Stunde der Entscheidung
nur die Anhänger des starren Einheitsstaats privilegirte Forderungen auf¬
zuweisen haben.

Die Tage, in denen die bayrische Krisis flagrant war, wußten Mancher¬
lei von östreichischen Einflüssen aus das bajuvansche Herrenhaus und
von besonders lebhaftem diplomatischem Verkehr zwischen den Cabinetten von
Wien und München zu erzählen. An und für sich sollte man glauben, die k. k.
Hofburg sitze tief genug in Verlegenheiten, um für große und kleine Geschäfte
bei den Nachbarn keine Zeit übrig zu haben. Das neue cisleithanische Ca-
binet offenbart eine Hilf- und Rathlosigkeit, welche Alles überbietet, was wir
in dieser Beziehung aus östreichischen Boden erlebt- haben. Der Versuch zu
Verhandlungen mit den czechischen Parteiführern ist so kläglich gescheitert, daß
die officiöse Presse ihr Heil in der Nothlüge suchen mußte, dieser Versuch sei
niemals ernsthaft gemeint gewesen. Wenn die Einführung des Herrn Dietrich
in die Prager Bürgermeisterei und das Ende des Strikes der Wiener Zei¬
tungssetzer registrirt sind, ist die östreichische Chronik sür den März 1870 er¬
schöpft -- die Nachricht, daß Giskra resignirt habe, wird noch der Bestätigung
bedürfen. -- Selbst auf den Gang der türkisch-montenegrinischen Grenzstreitig¬
keiten hat Oestreich nicht bestimmend einwirken können; gegen sein Interesse
und sicher gegen seinen Willen, soll die Grenzregulirung durch eine Conserenz
von Consuln der europäischen Großmächte vorgenommen werden -- ein
Modus, bei dem die Pforte bisher regelmäßig den Kürzeren gezogen hat.

Eine andere, für Oestreich gleichfalls nicht unwichtige Streitfrage
ist in den letzten Tagen im Sinn und Interesse der Pforte geschlichtet
worden, jener bulgarisch-griechische Kirchenstreit, dessen wechselvollen
Phasen die orthodoxe morgenländische Christenheit seit Monaten mit Span¬
nung gefolgt war. Ueber das Wesen dieses Streits und die wichtigsten Diffe¬
renzpunkte ist in diesen Blättern bereits wiederholt berichtet worden. Wie
in der Mehrzahl der slavischen Länder, so war ,auch in der Bulgarei seit
Jahrhunderten aller kirchliche Einfluß in griechischen Händen gewesen. Der
bulgarische Exarch wurde von dem griechischen Patriarchen Constantinopels
ernannt, war diesem in allen Angelegenheiten von einiger Bedeutung ver¬
antwortlich und untergeben; die von diesem Geistlichen ernannten Bischöfe
und sonstigen Cleriker standen natürlich gleichfalls in Stricker Abhängig¬
keit von den Griechen, welche ihre Machtstellung in der Regel zu heldi-
schen Zwecken ausbeuteten. Seit einigen Jahren ist unter den Bulgaren
eine national gefärbte Reaction gegen die kirchliche Herrschaft der Griechen
eingetreten, die in der Forderung gipfelte, der bulgarische Exarch und die Bi¬
schöfe des Landes sollten nicht von der griechischen, durch den Patriarchen
geleiteten Central-Synode, sondern von der einheimischen Geistlichkeit des


bigern an die bayrische Concursmasse werden in der Stunde der Entscheidung
nur die Anhänger des starren Einheitsstaats privilegirte Forderungen auf¬
zuweisen haben.

Die Tage, in denen die bayrische Krisis flagrant war, wußten Mancher¬
lei von östreichischen Einflüssen aus das bajuvansche Herrenhaus und
von besonders lebhaftem diplomatischem Verkehr zwischen den Cabinetten von
Wien und München zu erzählen. An und für sich sollte man glauben, die k. k.
Hofburg sitze tief genug in Verlegenheiten, um für große und kleine Geschäfte
bei den Nachbarn keine Zeit übrig zu haben. Das neue cisleithanische Ca-
binet offenbart eine Hilf- und Rathlosigkeit, welche Alles überbietet, was wir
in dieser Beziehung aus östreichischen Boden erlebt- haben. Der Versuch zu
Verhandlungen mit den czechischen Parteiführern ist so kläglich gescheitert, daß
die officiöse Presse ihr Heil in der Nothlüge suchen mußte, dieser Versuch sei
niemals ernsthaft gemeint gewesen. Wenn die Einführung des Herrn Dietrich
in die Prager Bürgermeisterei und das Ende des Strikes der Wiener Zei¬
tungssetzer registrirt sind, ist die östreichische Chronik sür den März 1870 er¬
schöpft — die Nachricht, daß Giskra resignirt habe, wird noch der Bestätigung
bedürfen. — Selbst auf den Gang der türkisch-montenegrinischen Grenzstreitig¬
keiten hat Oestreich nicht bestimmend einwirken können; gegen sein Interesse
und sicher gegen seinen Willen, soll die Grenzregulirung durch eine Conserenz
von Consuln der europäischen Großmächte vorgenommen werden — ein
Modus, bei dem die Pforte bisher regelmäßig den Kürzeren gezogen hat.

Eine andere, für Oestreich gleichfalls nicht unwichtige Streitfrage
ist in den letzten Tagen im Sinn und Interesse der Pforte geschlichtet
worden, jener bulgarisch-griechische Kirchenstreit, dessen wechselvollen
Phasen die orthodoxe morgenländische Christenheit seit Monaten mit Span¬
nung gefolgt war. Ueber das Wesen dieses Streits und die wichtigsten Diffe¬
renzpunkte ist in diesen Blättern bereits wiederholt berichtet worden. Wie
in der Mehrzahl der slavischen Länder, so war ,auch in der Bulgarei seit
Jahrhunderten aller kirchliche Einfluß in griechischen Händen gewesen. Der
bulgarische Exarch wurde von dem griechischen Patriarchen Constantinopels
ernannt, war diesem in allen Angelegenheiten von einiger Bedeutung ver¬
antwortlich und untergeben; die von diesem Geistlichen ernannten Bischöfe
und sonstigen Cleriker standen natürlich gleichfalls in Stricker Abhängig¬
keit von den Griechen, welche ihre Machtstellung in der Regel zu heldi-
schen Zwecken ausbeuteten. Seit einigen Jahren ist unter den Bulgaren
eine national gefärbte Reaction gegen die kirchliche Herrschaft der Griechen
eingetreten, die in der Forderung gipfelte, der bulgarische Exarch und die Bi¬
schöfe des Landes sollten nicht von der griechischen, durch den Patriarchen
geleiteten Central-Synode, sondern von der einheimischen Geistlichkeit des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/518>, abgerufen am 26.06.2024.