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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Anschauungen zu rechnen ist. Es handelt sich nicht darum, für eine neue
Auffassung der Frage in Deutschland Bahn zu brechen, fondern zunächst in
gleiche Linie mit den übrigen Culturvölkern zu rücken, unsere Verleger, Schrift¬
steller und Künstler durch ein allgemein giltiges Gesetz der Vortheile theilhaft
zu machen, von deren vollem Genuß sie allein in Europa bisher ausgeschlossen
waren. Wenn es dereinst der ökonomischen Wissenschaft gelungen ist, ihre Lehrsätze
der bisher giltigen Auffassung zu substituiren, so wird eine Rückwirkung dieses
Processes auf die Gesetzgebung nicht lange auf sich warten lassen: heute sind
wir so weit noch nicht und kann es unsere Sache nicht sein, die künftige
Rechtsüberzeugung der Nation zu anticipiren. -- Sollte es wirklich dazu kom¬
men, daß der Gesetzentwurf über literarisches Eigenthum im Reichstage stecken
bleibt, so provociren die gegenwärtigen Glieder seiner Majorität ein Ur¬
theil, das an ihren Verdiensten von 1868 und 1869 ohne Gedächtniß vor¬
übergehen wird. Die Neuwahlen stehen so direct vor der Thür, daß der
Ausgang der gegenwärtigen Session unvergleichlich größere Bedeutung hat,
als der der früheren Versammlungen: die letzten Eindrücke, welche auf die Wäh¬
ler gemacht werden, können nicht nur für die neu zu wählenden Glieder des
Parlaments sondern für unser gesäumtes neues Staatswesen verhängnißvoll
werden.

Die für den Sommer ausstehenden Neuwahlen werden dem Zollparla¬
ment ebenso gelten, wie dem Reichstage. Süddeutschland wird in einem
Zeitpunkt an die Wahlurne treten, der der nationalen Sache wenig Gunst
zu verheißen scheint. Wenn es den badischen Ultramontanen schon vor drei
Jahren gelang, eine unerwartet große Anzahl ihrer Candidaten durchzusetzen,
so müssen wir uns -- zumal nach dem letzten Berliner Ereigniß -- darauf
gefaßt machen, dieses Mal noch schlimmere Dinge in dem Lande zu erleben,
das den zuverlässigsten nationalen Vorposten zwischen Main und Alpen bildet.
Zu hoffen bleibt höchstens, daß man in den liberalen Kreisen der damals
empfangenen Lection eingedenk bleiben und trotz der erschwerten Lage des
Ministeriums Jolly die Wiederkehr von Secessionen im Offenburger Styl
unmöglich machen werde. Was Bayern und Würtemberg anlangt, so kön¬
nen die Leute leicht Recht behalten, welche ein particularistisches Schreckens¬
ende der gegenwärtigen Wirthschaft des Schreckens ohne Ende vorziehen.
Die Angriffe der schwäbischen Demokraten und Großdeutschen gegen das wür-
tenbergische Wehrgesetz und den Minister von Wagner) welche uns schon vor
Wochen signalisirt wurden, haben nicht auf sich warten lassen; sie liegen in der
Gestalt wohlformulirter, von 40 Kammermitgliedern unterzeichneter Anträge
einer Commission vor, welche sich ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach rückhalts¬
los anschließen wird. Möglich daß es Herrn von Varnbühler gelingt, das
Schlimmste abzuwenden und seine befreundeten Gegner mit einer Abschlags-


Anschauungen zu rechnen ist. Es handelt sich nicht darum, für eine neue
Auffassung der Frage in Deutschland Bahn zu brechen, fondern zunächst in
gleiche Linie mit den übrigen Culturvölkern zu rücken, unsere Verleger, Schrift¬
steller und Künstler durch ein allgemein giltiges Gesetz der Vortheile theilhaft
zu machen, von deren vollem Genuß sie allein in Europa bisher ausgeschlossen
waren. Wenn es dereinst der ökonomischen Wissenschaft gelungen ist, ihre Lehrsätze
der bisher giltigen Auffassung zu substituiren, so wird eine Rückwirkung dieses
Processes auf die Gesetzgebung nicht lange auf sich warten lassen: heute sind
wir so weit noch nicht und kann es unsere Sache nicht sein, die künftige
Rechtsüberzeugung der Nation zu anticipiren. — Sollte es wirklich dazu kom¬
men, daß der Gesetzentwurf über literarisches Eigenthum im Reichstage stecken
bleibt, so provociren die gegenwärtigen Glieder seiner Majorität ein Ur¬
theil, das an ihren Verdiensten von 1868 und 1869 ohne Gedächtniß vor¬
übergehen wird. Die Neuwahlen stehen so direct vor der Thür, daß der
Ausgang der gegenwärtigen Session unvergleichlich größere Bedeutung hat,
als der der früheren Versammlungen: die letzten Eindrücke, welche auf die Wäh¬
ler gemacht werden, können nicht nur für die neu zu wählenden Glieder des
Parlaments sondern für unser gesäumtes neues Staatswesen verhängnißvoll
werden.

Die für den Sommer ausstehenden Neuwahlen werden dem Zollparla¬
ment ebenso gelten, wie dem Reichstage. Süddeutschland wird in einem
Zeitpunkt an die Wahlurne treten, der der nationalen Sache wenig Gunst
zu verheißen scheint. Wenn es den badischen Ultramontanen schon vor drei
Jahren gelang, eine unerwartet große Anzahl ihrer Candidaten durchzusetzen,
so müssen wir uns — zumal nach dem letzten Berliner Ereigniß — darauf
gefaßt machen, dieses Mal noch schlimmere Dinge in dem Lande zu erleben,
das den zuverlässigsten nationalen Vorposten zwischen Main und Alpen bildet.
Zu hoffen bleibt höchstens, daß man in den liberalen Kreisen der damals
empfangenen Lection eingedenk bleiben und trotz der erschwerten Lage des
Ministeriums Jolly die Wiederkehr von Secessionen im Offenburger Styl
unmöglich machen werde. Was Bayern und Würtemberg anlangt, so kön¬
nen die Leute leicht Recht behalten, welche ein particularistisches Schreckens¬
ende der gegenwärtigen Wirthschaft des Schreckens ohne Ende vorziehen.
Die Angriffe der schwäbischen Demokraten und Großdeutschen gegen das wür-
tenbergische Wehrgesetz und den Minister von Wagner) welche uns schon vor
Wochen signalisirt wurden, haben nicht auf sich warten lassen; sie liegen in der
Gestalt wohlformulirter, von 40 Kammermitgliedern unterzeichneter Anträge
einer Commission vor, welche sich ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach rückhalts¬
los anschließen wird. Möglich daß es Herrn von Varnbühler gelingt, das
Schlimmste abzuwenden und seine befreundeten Gegner mit einer Abschlags-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/516>, abgerufen am 26.06.2024.