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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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knaben. wie bei häuslicher Arbeit der Waisenhausmädchen; dieselbe Abgeneigt-
heit der Handwerksmeister sich mit ihnen zu befassen. Nur der äußerste Grad
einer bestimmten theologischen Verschrobenheit könnte annehmen, daß dieser
nachtheilige Unterschied in der Natur des Waisenkindes begründet liege,
anstatt in dem Wesen der Erziehung im Waisenhause, und etwa eine Kraft
von Gott sei "bis ins zweite Glied" für bekannte oder unbekannte Sünden
ihrer Eltern. Halbwegs unbefangene Betrachtung muß zu dem Schlüsse kom¬
men, daß die Erziehung im Waisenhause nichts taugt.

Zu diesem Schlüsse ist denn auch von ihrem Standpunkt aus die kom¬
petenteste pädagogische Instanz gekommen, welche Deutschland kennt: die
Allgemeine Deutsche Lehrerversammlung, als sie Pfingsten 1868 in Kassel der
Angelegenheit der Waisenpflege einen vollen Tag widmete. Die Verhandlung
nahm keinen allzuviel versprechenden Anfang. Der ernannte einleitende Bericht¬
erstatter, Stadtpfarrer Riecke aus Neuffen in Würtemberg, hatte Thesen von
einer unglücklichen Umfafsenheit aufgestellt und begründete dieselben mit einer
Pastoralen Weitschweifigkeit, welche die in solchen Dingen einsichtige Zuhörer¬
schaft sich wohl nur deshalb gefallen ließ, weil man glaubte mit einem der
wenigen Geistlichen, die das Odium der Betheiligung an dem Congreß der
Real- und Bolksschullehrer nicht scheuen, besondere Rücksichten nehmen zu
müssen. Aber die nächsten Redner wurden dadurch verleitet, sich in eine höchst
müßige Untersuchung über das Wesen des Staats und die Grenzen seiner
Wirksamkeit zu verlieren -- ein Thema, für das die vereinigten deutschen
Pädagogen nicht competent sind, dessen redselige Aufnahme auch nur allen¬
falls enthüllt, wie Noth es thäte hier die Begriffe von anderer Seite her zu
klären. Erst der vierte Redner, Lehrer Petsch aus Berlin, lenkte die Debatte
mit Erfolg auf den Punkt zurück, zu dessen Aufhellung die versammelten
Lehrer etwas beitragen konnten und mußten. Es folgten dann aus viel¬
seitiger örtlicher und persönlicher Erfahrung heraus Mittheilungen über that¬
sächliche Zustände sowohl wie Entwickelungen kritischer oder reformatorischer
Ideen, zumal von Schuldirector Schöne aus Leipzig, Schulrath Drescher
aus Sachsenhauser, Lehrer Schütz aus Magdeburg, Lehrer Thomas aus
Leipzig, Inspector Brüllow aus Berlin. Der letztgenannte Redner war so
ziemlich der Einzige, der nicht schlechthin in das unbedingte Verdammungs¬
urtheil über die Waisenhäuser einstimmte. Aber auch er schloß dieselben
gänzlich aus für Mädchen; und für Knaben wollte er sie gleichfalls nur
unter ganz bestimmten, unerläßlichen Bedingungen noch gelten lassen. Diese
Bedingungen waren folgende: 1) keine zu große Zahl von Kindern, so daß
der Waisenvater die Individualität jedes Kindes zu beobachten und zu be-
rücksichtigen vermag; 2) keine zu entschiedene Trennung der Kinder von ihren
Angehörigen, namentlich wenn die Mutter noch lebt; 3) Theilnahme am


knaben. wie bei häuslicher Arbeit der Waisenhausmädchen; dieselbe Abgeneigt-
heit der Handwerksmeister sich mit ihnen zu befassen. Nur der äußerste Grad
einer bestimmten theologischen Verschrobenheit könnte annehmen, daß dieser
nachtheilige Unterschied in der Natur des Waisenkindes begründet liege,
anstatt in dem Wesen der Erziehung im Waisenhause, und etwa eine Kraft
von Gott sei „bis ins zweite Glied" für bekannte oder unbekannte Sünden
ihrer Eltern. Halbwegs unbefangene Betrachtung muß zu dem Schlüsse kom¬
men, daß die Erziehung im Waisenhause nichts taugt.

Zu diesem Schlüsse ist denn auch von ihrem Standpunkt aus die kom¬
petenteste pädagogische Instanz gekommen, welche Deutschland kennt: die
Allgemeine Deutsche Lehrerversammlung, als sie Pfingsten 1868 in Kassel der
Angelegenheit der Waisenpflege einen vollen Tag widmete. Die Verhandlung
nahm keinen allzuviel versprechenden Anfang. Der ernannte einleitende Bericht¬
erstatter, Stadtpfarrer Riecke aus Neuffen in Würtemberg, hatte Thesen von
einer unglücklichen Umfafsenheit aufgestellt und begründete dieselben mit einer
Pastoralen Weitschweifigkeit, welche die in solchen Dingen einsichtige Zuhörer¬
schaft sich wohl nur deshalb gefallen ließ, weil man glaubte mit einem der
wenigen Geistlichen, die das Odium der Betheiligung an dem Congreß der
Real- und Bolksschullehrer nicht scheuen, besondere Rücksichten nehmen zu
müssen. Aber die nächsten Redner wurden dadurch verleitet, sich in eine höchst
müßige Untersuchung über das Wesen des Staats und die Grenzen seiner
Wirksamkeit zu verlieren — ein Thema, für das die vereinigten deutschen
Pädagogen nicht competent sind, dessen redselige Aufnahme auch nur allen¬
falls enthüllt, wie Noth es thäte hier die Begriffe von anderer Seite her zu
klären. Erst der vierte Redner, Lehrer Petsch aus Berlin, lenkte die Debatte
mit Erfolg auf den Punkt zurück, zu dessen Aufhellung die versammelten
Lehrer etwas beitragen konnten und mußten. Es folgten dann aus viel¬
seitiger örtlicher und persönlicher Erfahrung heraus Mittheilungen über that¬
sächliche Zustände sowohl wie Entwickelungen kritischer oder reformatorischer
Ideen, zumal von Schuldirector Schöne aus Leipzig, Schulrath Drescher
aus Sachsenhauser, Lehrer Schütz aus Magdeburg, Lehrer Thomas aus
Leipzig, Inspector Brüllow aus Berlin. Der letztgenannte Redner war so
ziemlich der Einzige, der nicht schlechthin in das unbedingte Verdammungs¬
urtheil über die Waisenhäuser einstimmte. Aber auch er schloß dieselben
gänzlich aus für Mädchen; und für Knaben wollte er sie gleichfalls nur
unter ganz bestimmten, unerläßlichen Bedingungen noch gelten lassen. Diese
Bedingungen waren folgende: 1) keine zu große Zahl von Kindern, so daß
der Waisenvater die Individualität jedes Kindes zu beobachten und zu be-
rücksichtigen vermag; 2) keine zu entschiedene Trennung der Kinder von ihren
Angehörigen, namentlich wenn die Mutter noch lebt; 3) Theilnahme am


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/501>, abgerufen am 26.06.2024.