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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Die Mädchen läßt es soviel leichter ausgleiten auf der verhängnißvollen
schiefen Ebene, welche zur Prostitution führt. Beide prädestinier es gewisser¬
maßen, der öffentlichen Wohlthätigkeit lebenslang zur Last zu fallen, und
zu enden, wie sie ohne ihr Verschulden angefangen haben, als Almosen¬
empfänger, als Schmarotzerpflanzen am Baume der wirthschaftenden Gesell¬
schaft.

Neben diesem Mangel an elementarer, wirthschaftlicher Ausbildung steht
auf der anderen Seite der Mangel an fast jeder Gelegenheit zu elementarer
technischer Ausbildung. Dieser tritt am schreiendsten bei den Mädchen her¬
vor, die, weil ihr künftiger Lebenslauf vorwiegend auf das Haus hinweist,
mit dem elterlichen Hause auch am meisten entbehren. Sie lernen weder
Kinderwärter noch allerhand häusliche Verrichtungen thun, wenn sie im
Waisenhause aufwachsen. Treten sie daher nach der Confirmation und Ent¬
lassung aus der Anstalt einen Dienst an, so geht ihnen selbst das mäßige
Geschick ab, mit welchem jedes andere Mädchen anfängt, sich in der Küche,
in der Kinderstube und anderweit im Haushalt nützlich zu erweisen. Die
Dienstwirthschaft aber, die für den bezahlten Lohn entsprechende Leistungen
will, der es gleichgiltig ist, ob sie es mit einem verwaisten Mädchen zu thun
hat oder nicht, sieht sich in ihren unwillkürlichen, weil durch andere Mädchen
regelmäßig erfüllten Erwartungen getäuscht. Sie sucht sich sobald wie mög¬
lich von einer so ungenügenden Gehilfin wieder loszumachen. So geschieht
es, daß die aus dem Waisenhause hervorgegangenen Mädchen in der Con-
currenz des Dienstboten-Angebots immer weiter zurückgeschoben werden. Die
schwache Entwickelung ihres wirthschaftlichen Selbsterhaltungstriebs aber setzt
dieser Hinausdrängung aus der Reese überdies wenig Widerstand entgegen.
Sie greifen zur Nadel oder zur Putz- und Blumenmacherei, um aus dieser
Station ebenfalls nur selten festen Fuß zu fassen, meist noch weit tiefer zu
sinken, in ein Verderben ohne Rettung. Nicht viel minder nachtheilig ist
es dem Knaben, seine Jugend im Waisenhause zu verbringen. Er entbehrt
da nicht allein der allgemeinen Anregung des Geistes, welche dem Menschen
alle Eindrücke kräftiger in sich aufzunehmen und zu verarbeiten hilft, sondern
insbesondere auch aller der äußeren Anlässe, denen ein frei sich tummelnder
Junge es verdankt, wenn irgend ein specieller Erwerbszweig seine Neigung
fesselt, um ein schlummerndes Talent zu erwecken. Er spielt nicht auf Bau¬
plätzen, oder bei Straßenarbeiten, oder am Ufer eines mit Schiffen angefüll¬
ten Hafens. Seine ganze Welt ist ein Haus, das er selten überhaupt ver¬
läßt, und dann so zu sagen nur mit der Kette am Bein, in Gestalt eines
Aufsehers, der jeder freien Bewegung vorbeugt, ja. wie bemerkt, nur zu oft
noch obendrein in einer isolirenden, um nicht zu sagen brandmarkenden Uniform.
Daher später in der Lehre dieselbe relative Unanstelligkeit der Waisenhaus-


Die Mädchen läßt es soviel leichter ausgleiten auf der verhängnißvollen
schiefen Ebene, welche zur Prostitution führt. Beide prädestinier es gewisser¬
maßen, der öffentlichen Wohlthätigkeit lebenslang zur Last zu fallen, und
zu enden, wie sie ohne ihr Verschulden angefangen haben, als Almosen¬
empfänger, als Schmarotzerpflanzen am Baume der wirthschaftenden Gesell¬
schaft.

Neben diesem Mangel an elementarer, wirthschaftlicher Ausbildung steht
auf der anderen Seite der Mangel an fast jeder Gelegenheit zu elementarer
technischer Ausbildung. Dieser tritt am schreiendsten bei den Mädchen her¬
vor, die, weil ihr künftiger Lebenslauf vorwiegend auf das Haus hinweist,
mit dem elterlichen Hause auch am meisten entbehren. Sie lernen weder
Kinderwärter noch allerhand häusliche Verrichtungen thun, wenn sie im
Waisenhause aufwachsen. Treten sie daher nach der Confirmation und Ent¬
lassung aus der Anstalt einen Dienst an, so geht ihnen selbst das mäßige
Geschick ab, mit welchem jedes andere Mädchen anfängt, sich in der Küche,
in der Kinderstube und anderweit im Haushalt nützlich zu erweisen. Die
Dienstwirthschaft aber, die für den bezahlten Lohn entsprechende Leistungen
will, der es gleichgiltig ist, ob sie es mit einem verwaisten Mädchen zu thun
hat oder nicht, sieht sich in ihren unwillkürlichen, weil durch andere Mädchen
regelmäßig erfüllten Erwartungen getäuscht. Sie sucht sich sobald wie mög¬
lich von einer so ungenügenden Gehilfin wieder loszumachen. So geschieht
es, daß die aus dem Waisenhause hervorgegangenen Mädchen in der Con-
currenz des Dienstboten-Angebots immer weiter zurückgeschoben werden. Die
schwache Entwickelung ihres wirthschaftlichen Selbsterhaltungstriebs aber setzt
dieser Hinausdrängung aus der Reese überdies wenig Widerstand entgegen.
Sie greifen zur Nadel oder zur Putz- und Blumenmacherei, um aus dieser
Station ebenfalls nur selten festen Fuß zu fassen, meist noch weit tiefer zu
sinken, in ein Verderben ohne Rettung. Nicht viel minder nachtheilig ist
es dem Knaben, seine Jugend im Waisenhause zu verbringen. Er entbehrt
da nicht allein der allgemeinen Anregung des Geistes, welche dem Menschen
alle Eindrücke kräftiger in sich aufzunehmen und zu verarbeiten hilft, sondern
insbesondere auch aller der äußeren Anlässe, denen ein frei sich tummelnder
Junge es verdankt, wenn irgend ein specieller Erwerbszweig seine Neigung
fesselt, um ein schlummerndes Talent zu erwecken. Er spielt nicht auf Bau¬
plätzen, oder bei Straßenarbeiten, oder am Ufer eines mit Schiffen angefüll¬
ten Hafens. Seine ganze Welt ist ein Haus, das er selten überhaupt ver¬
läßt, und dann so zu sagen nur mit der Kette am Bein, in Gestalt eines
Aufsehers, der jeder freien Bewegung vorbeugt, ja. wie bemerkt, nur zu oft
noch obendrein in einer isolirenden, um nicht zu sagen brandmarkenden Uniform.
Daher später in der Lehre dieselbe relative Unanstelligkeit der Waisenhaus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/500>, abgerufen am 28.09.2024.