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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Unterricht der öffentlichen Schulen; 4) keine Uniform; 8) Anweisung, den
Geldwerth der Dinge zu beachten und zu schätzen; 6) wöchentlich ein paar
Spaziergänge ins Freie. Die Versammlung eignete sich nachher die Bedingun¬
gen des Inspector Brüllow (bis auf die fünfte, nicht recht resolutionsfähige)
für den Ausnahmefall an, daß noch "Waisenhäuser mit wenig zahlreichen
Zöglingen" irgendwo fortbestehen sollten, bezeichnete im übrigen aber auf den
Antrag des Dr. Denhard aus Kassel als Mittel für die Erfüllung der Pflicht
der Waisenpflege, die sie der Gemeinde und aushilfsweise dem Staate zu¬
schob, Familien-Erziehung und den Unterricht in öffentlichen Schulen.

Commune und Staat, -- das sind bekanntlich die starken Schultern, denen
Jeder sich berechtigt glaubt, seine frommen Wünsche für das Gemeinwohl
aufzuladen. Mit anderen Worten: die Zeitgenossen sind etwas zu sehr ge¬
neigt, zur Ausführung ihrer Ideen, guter wie schlechter, an die organisirte
öffentliche Zwangsgewalt zu appelliren. Nun ist allerdings zuzugeben, daß
bisher, von milden Stiftungen abgesehen, immer entweder der Staat oder
die Gemeinde es gewesen ist, woher den mittellosen Waisen Hilfe gekommen.
Freie Vereine spielen bis jetzt auf dieser Bühne keine Rolle. Aber wenn man
sich einmal auf das Ueberlieserte, Bestehende, Erhörte beschränken will, so ist
es schon kaum richtig, was die Allgemeine deutsche Lehrerversammlung daraus
abgeleitet hat: daß die Waisenpflege zunächst der Gemeinde gehöre, und dem
Staate nur aushilfsweise. Nicht allein, daß man z. B. an Nassau, und an¬
scheinend auch in Sachsen-Weimar thatsächliche Muster von reiner Staats¬
waisenpflege vor Augen hat -- diese Verwaltungen stehen unter ihres gleichen
obenan. Sie haben beide (die weimarische schon unter Großherzog Karl
August, seit 1784) die Familien-Erziehung strenge durchgeführt, und sind
dabei niemals auf das Hinderniß oberflächlicher Sucher gestoßen, die ver¬
meintliche Schwierigkeit immer gute Pflegeeltern zu finden. Vielleicht ist
dieser einzige ernsthafte Einwand also, der hier und da noch gegen die Fa"
milienpflege geltend gemacht wird, besser zu überwinden in größeren gemisch¬
ten Kreisen, als wo eine Stadt alleinsteht und für sich bleibt. Nun ist es
allerdings, theoretisch gesprochen, ein Zufall, daß wir Staaten von der Größe
Weimars und Nassaus in Deutschland haben, bezw. hatten. Aber wenn
deswegen nicht nothwendig dem Staate, so doch dem Kreise (oder wie sonst
die Mittelerstreckung zwischen Staat und Gemeinde heißt) könnte die Waisen¬
pflege zufallen. Sie ist mit keiner inneren Nothwendigkeit an das organische
Gebilde der Commune oder des Staats gebunden. Wenn das aber nicht,
warum sollte man sich nicht vorstellen können, daß eine besondere, eigens
dafür entstehende Organisation sich hervorragend für Waisenerziehung eignen¬
der und tnteressirender Kräfte die Aufgabe allen anderen Schultern ab¬
nähme? Sie würde derselben doch gewiß deshalb nicht weniger gewachsen


Unterricht der öffentlichen Schulen; 4) keine Uniform; 8) Anweisung, den
Geldwerth der Dinge zu beachten und zu schätzen; 6) wöchentlich ein paar
Spaziergänge ins Freie. Die Versammlung eignete sich nachher die Bedingun¬
gen des Inspector Brüllow (bis auf die fünfte, nicht recht resolutionsfähige)
für den Ausnahmefall an, daß noch „Waisenhäuser mit wenig zahlreichen
Zöglingen" irgendwo fortbestehen sollten, bezeichnete im übrigen aber auf den
Antrag des Dr. Denhard aus Kassel als Mittel für die Erfüllung der Pflicht
der Waisenpflege, die sie der Gemeinde und aushilfsweise dem Staate zu¬
schob, Familien-Erziehung und den Unterricht in öffentlichen Schulen.

Commune und Staat, — das sind bekanntlich die starken Schultern, denen
Jeder sich berechtigt glaubt, seine frommen Wünsche für das Gemeinwohl
aufzuladen. Mit anderen Worten: die Zeitgenossen sind etwas zu sehr ge¬
neigt, zur Ausführung ihrer Ideen, guter wie schlechter, an die organisirte
öffentliche Zwangsgewalt zu appelliren. Nun ist allerdings zuzugeben, daß
bisher, von milden Stiftungen abgesehen, immer entweder der Staat oder
die Gemeinde es gewesen ist, woher den mittellosen Waisen Hilfe gekommen.
Freie Vereine spielen bis jetzt auf dieser Bühne keine Rolle. Aber wenn man
sich einmal auf das Ueberlieserte, Bestehende, Erhörte beschränken will, so ist
es schon kaum richtig, was die Allgemeine deutsche Lehrerversammlung daraus
abgeleitet hat: daß die Waisenpflege zunächst der Gemeinde gehöre, und dem
Staate nur aushilfsweise. Nicht allein, daß man z. B. an Nassau, und an¬
scheinend auch in Sachsen-Weimar thatsächliche Muster von reiner Staats¬
waisenpflege vor Augen hat — diese Verwaltungen stehen unter ihres gleichen
obenan. Sie haben beide (die weimarische schon unter Großherzog Karl
August, seit 1784) die Familien-Erziehung strenge durchgeführt, und sind
dabei niemals auf das Hinderniß oberflächlicher Sucher gestoßen, die ver¬
meintliche Schwierigkeit immer gute Pflegeeltern zu finden. Vielleicht ist
dieser einzige ernsthafte Einwand also, der hier und da noch gegen die Fa»
milienpflege geltend gemacht wird, besser zu überwinden in größeren gemisch¬
ten Kreisen, als wo eine Stadt alleinsteht und für sich bleibt. Nun ist es
allerdings, theoretisch gesprochen, ein Zufall, daß wir Staaten von der Größe
Weimars und Nassaus in Deutschland haben, bezw. hatten. Aber wenn
deswegen nicht nothwendig dem Staate, so doch dem Kreise (oder wie sonst
die Mittelerstreckung zwischen Staat und Gemeinde heißt) könnte die Waisen¬
pflege zufallen. Sie ist mit keiner inneren Nothwendigkeit an das organische
Gebilde der Commune oder des Staats gebunden. Wenn das aber nicht,
warum sollte man sich nicht vorstellen können, daß eine besondere, eigens
dafür entstehende Organisation sich hervorragend für Waisenerziehung eignen¬
der und tnteressirender Kräfte die Aufgabe allen anderen Schultern ab¬
nähme? Sie würde derselben doch gewiß deshalb nicht weniger gewachsen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/502>, abgerufen am 26.06.2024.