Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der Centralverwaltung oder der Vertreter derselben. Diese Art der Waisen¬
versorgung empfiehlt sich zunächst durch ihre Billigkeit. In Berlin kosteten
1867 von den 2300 Kindern der großen städtischen Waisenanstalt (Großes
Friedrichs-Waisenhaus) die 496 in Rummelsburg erzogenen durchschnittlich
134 Thlr. 11 Sgr., die 1804 in Familien untergebrachten nur 49 Thlr.
20 Sgr. In Dresden kam man 1868 für letztere gar mit 38 Thlr. aus.
Im ehemaligen Herzogthum Nassau, dessen Waisenpflege in dem sogenannten
Centralwaisenfonds schlechthin centralisirt ist, bezahlt man 40 bis 60 Gulden
Rheinisch und findet allezeit gute Pflegeeltern. Die Stadt Oldenburg gibt
selbst erwachsene Almosennehmer in Kost für 20 bis 40 Thlr.; für Kinder
zahlt sie 12 bis 30 Thlr. Unter 100 Thlr. dagegen, kann man wohl an¬
nehmen, wird ein Kind im Waisenhause nicht leicht irgendwo in Deutschland
zu erhalten sein. Die öffentliche Armenpflege wird also mit der Abschaffung
der Waisenhäuser ein gutes Geschäft machen.

Sie kann sich diesen Gewinn aber auch gern gefallen lassen, denn selbst
wenn es umgekehrt wäre, wenn die Familienpflege viel theurer wäre als das
Waisenhaus, müßte man aus sachlichen Gründen jener den Vorzug geben.
Die Ergebnisse, neben einander gehalten, zeugen laut gegen die Waisenhaus¬
erziehung. Die aus ihr hervorgegangenen Knaben sind minder anstellig,
minder erwerbskrästig; kein Handwerker, der vergleichen gelernt hat, nimmt
sie im Allgemeinen so gern wie andere Knaben aus derselben Volksschicht.
Die Mädchen entbehren in höherem Grade als ihresgleichen der häuslichen
Wirthschaftlichkeit und stellen ein unverhältnißmäßig bedeutendes Contingent
zur Prostitution.

Dies ist kein großes Wunder. Die Abschließung der Kinder vom ge¬
wöhnlichen Leben, wie sie das Waisenhaus mit sich bringt, nur zu häufig
noch sogar vermöge einer besonderen Waisenuniform, hält ihre Entwickelung
unausbleiblich nieder. Sie verhindert aus der einen Seite, daß sich ihnen
das alte Gebot Gottes an die Menschheit: "Im Schweiße Deines Angesichts
sollst Du Dein Brot essen" früh genug in die empfängliche Seele präge.
Für sie ist alles Nothwendige ja stets in gleicher Fülle da, ohne daß sie je¬
mals erfuhren, woher es ihnen kommt. Sie sehen nicht den Vater die Stirne
furchen und die Mutter weinen, wenn es einmal knapp mit dem die Familie
erhaltenden Verdienste geht. Der Zusammenhang zwischen Arbeiten und Essen
entzieht sich ihrer Wahrnehmung gänzlich. Sie können also auch später nicht
so aufgelegt wie andere arme Leute sein, es für ihre eigene Schuld anzusehen,
wenn sie hungern oder frieren müssen, und eher jede Art von Anstrengung
auf sich zu nehmen, als ein widerwillig geschenktes oder ein schimpflich erwor¬
benes Brot zu essen. Dies muß in den Knaben den Trieb abstumpfen, der
sonst erst zur Selbstausbildung und später zur Selbsterhaltung anspornt.


der Centralverwaltung oder der Vertreter derselben. Diese Art der Waisen¬
versorgung empfiehlt sich zunächst durch ihre Billigkeit. In Berlin kosteten
1867 von den 2300 Kindern der großen städtischen Waisenanstalt (Großes
Friedrichs-Waisenhaus) die 496 in Rummelsburg erzogenen durchschnittlich
134 Thlr. 11 Sgr., die 1804 in Familien untergebrachten nur 49 Thlr.
20 Sgr. In Dresden kam man 1868 für letztere gar mit 38 Thlr. aus.
Im ehemaligen Herzogthum Nassau, dessen Waisenpflege in dem sogenannten
Centralwaisenfonds schlechthin centralisirt ist, bezahlt man 40 bis 60 Gulden
Rheinisch und findet allezeit gute Pflegeeltern. Die Stadt Oldenburg gibt
selbst erwachsene Almosennehmer in Kost für 20 bis 40 Thlr.; für Kinder
zahlt sie 12 bis 30 Thlr. Unter 100 Thlr. dagegen, kann man wohl an¬
nehmen, wird ein Kind im Waisenhause nicht leicht irgendwo in Deutschland
zu erhalten sein. Die öffentliche Armenpflege wird also mit der Abschaffung
der Waisenhäuser ein gutes Geschäft machen.

Sie kann sich diesen Gewinn aber auch gern gefallen lassen, denn selbst
wenn es umgekehrt wäre, wenn die Familienpflege viel theurer wäre als das
Waisenhaus, müßte man aus sachlichen Gründen jener den Vorzug geben.
Die Ergebnisse, neben einander gehalten, zeugen laut gegen die Waisenhaus¬
erziehung. Die aus ihr hervorgegangenen Knaben sind minder anstellig,
minder erwerbskrästig; kein Handwerker, der vergleichen gelernt hat, nimmt
sie im Allgemeinen so gern wie andere Knaben aus derselben Volksschicht.
Die Mädchen entbehren in höherem Grade als ihresgleichen der häuslichen
Wirthschaftlichkeit und stellen ein unverhältnißmäßig bedeutendes Contingent
zur Prostitution.

Dies ist kein großes Wunder. Die Abschließung der Kinder vom ge¬
wöhnlichen Leben, wie sie das Waisenhaus mit sich bringt, nur zu häufig
noch sogar vermöge einer besonderen Waisenuniform, hält ihre Entwickelung
unausbleiblich nieder. Sie verhindert aus der einen Seite, daß sich ihnen
das alte Gebot Gottes an die Menschheit: „Im Schweiße Deines Angesichts
sollst Du Dein Brot essen" früh genug in die empfängliche Seele präge.
Für sie ist alles Nothwendige ja stets in gleicher Fülle da, ohne daß sie je¬
mals erfuhren, woher es ihnen kommt. Sie sehen nicht den Vater die Stirne
furchen und die Mutter weinen, wenn es einmal knapp mit dem die Familie
erhaltenden Verdienste geht. Der Zusammenhang zwischen Arbeiten und Essen
entzieht sich ihrer Wahrnehmung gänzlich. Sie können also auch später nicht
so aufgelegt wie andere arme Leute sein, es für ihre eigene Schuld anzusehen,
wenn sie hungern oder frieren müssen, und eher jede Art von Anstrengung
auf sich zu nehmen, als ein widerwillig geschenktes oder ein schimpflich erwor¬
benes Brot zu essen. Dies muß in den Knaben den Trieb abstumpfen, der
sonst erst zur Selbstausbildung und später zur Selbsterhaltung anspornt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0499" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123587"/>
          <p xml:id="ID_1429" prev="#ID_1428"> der Centralverwaltung oder der Vertreter derselben. Diese Art der Waisen¬<lb/>
versorgung empfiehlt sich zunächst durch ihre Billigkeit. In Berlin kosteten<lb/>
1867 von den 2300 Kindern der großen städtischen Waisenanstalt (Großes<lb/>
Friedrichs-Waisenhaus) die 496 in Rummelsburg erzogenen durchschnittlich<lb/>
134 Thlr. 11 Sgr., die 1804 in Familien untergebrachten nur 49 Thlr.<lb/>
20 Sgr. In Dresden kam man 1868 für letztere gar mit 38 Thlr. aus.<lb/>
Im ehemaligen Herzogthum Nassau, dessen Waisenpflege in dem sogenannten<lb/>
Centralwaisenfonds schlechthin centralisirt ist, bezahlt man 40 bis 60 Gulden<lb/>
Rheinisch und findet allezeit gute Pflegeeltern. Die Stadt Oldenburg gibt<lb/>
selbst erwachsene Almosennehmer in Kost für 20 bis 40 Thlr.; für Kinder<lb/>
zahlt sie 12 bis 30 Thlr. Unter 100 Thlr. dagegen, kann man wohl an¬<lb/>
nehmen, wird ein Kind im Waisenhause nicht leicht irgendwo in Deutschland<lb/>
zu erhalten sein. Die öffentliche Armenpflege wird also mit der Abschaffung<lb/>
der Waisenhäuser ein gutes Geschäft machen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1430"> Sie kann sich diesen Gewinn aber auch gern gefallen lassen, denn selbst<lb/>
wenn es umgekehrt wäre, wenn die Familienpflege viel theurer wäre als das<lb/>
Waisenhaus, müßte man aus sachlichen Gründen jener den Vorzug geben.<lb/>
Die Ergebnisse, neben einander gehalten, zeugen laut gegen die Waisenhaus¬<lb/>
erziehung. Die aus ihr hervorgegangenen Knaben sind minder anstellig,<lb/>
minder erwerbskrästig; kein Handwerker, der vergleichen gelernt hat, nimmt<lb/>
sie im Allgemeinen so gern wie andere Knaben aus derselben Volksschicht.<lb/>
Die Mädchen entbehren in höherem Grade als ihresgleichen der häuslichen<lb/>
Wirthschaftlichkeit und stellen ein unverhältnißmäßig bedeutendes Contingent<lb/>
zur Prostitution.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1431" next="#ID_1432"> Dies ist kein großes Wunder. Die Abschließung der Kinder vom ge¬<lb/>
wöhnlichen Leben, wie sie das Waisenhaus mit sich bringt, nur zu häufig<lb/>
noch sogar vermöge einer besonderen Waisenuniform, hält ihre Entwickelung<lb/>
unausbleiblich nieder. Sie verhindert aus der einen Seite, daß sich ihnen<lb/>
das alte Gebot Gottes an die Menschheit: &#x201E;Im Schweiße Deines Angesichts<lb/>
sollst Du Dein Brot essen" früh genug in die empfängliche Seele präge.<lb/>
Für sie ist alles Nothwendige ja stets in gleicher Fülle da, ohne daß sie je¬<lb/>
mals erfuhren, woher es ihnen kommt. Sie sehen nicht den Vater die Stirne<lb/>
furchen und die Mutter weinen, wenn es einmal knapp mit dem die Familie<lb/>
erhaltenden Verdienste geht. Der Zusammenhang zwischen Arbeiten und Essen<lb/>
entzieht sich ihrer Wahrnehmung gänzlich. Sie können also auch später nicht<lb/>
so aufgelegt wie andere arme Leute sein, es für ihre eigene Schuld anzusehen,<lb/>
wenn sie hungern oder frieren müssen, und eher jede Art von Anstrengung<lb/>
auf sich zu nehmen, als ein widerwillig geschenktes oder ein schimpflich erwor¬<lb/>
benes Brot zu essen. Dies muß in den Knaben den Trieb abstumpfen, der<lb/>
sonst erst zur Selbstausbildung und später zur Selbsterhaltung anspornt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0499] der Centralverwaltung oder der Vertreter derselben. Diese Art der Waisen¬ versorgung empfiehlt sich zunächst durch ihre Billigkeit. In Berlin kosteten 1867 von den 2300 Kindern der großen städtischen Waisenanstalt (Großes Friedrichs-Waisenhaus) die 496 in Rummelsburg erzogenen durchschnittlich 134 Thlr. 11 Sgr., die 1804 in Familien untergebrachten nur 49 Thlr. 20 Sgr. In Dresden kam man 1868 für letztere gar mit 38 Thlr. aus. Im ehemaligen Herzogthum Nassau, dessen Waisenpflege in dem sogenannten Centralwaisenfonds schlechthin centralisirt ist, bezahlt man 40 bis 60 Gulden Rheinisch und findet allezeit gute Pflegeeltern. Die Stadt Oldenburg gibt selbst erwachsene Almosennehmer in Kost für 20 bis 40 Thlr.; für Kinder zahlt sie 12 bis 30 Thlr. Unter 100 Thlr. dagegen, kann man wohl an¬ nehmen, wird ein Kind im Waisenhause nicht leicht irgendwo in Deutschland zu erhalten sein. Die öffentliche Armenpflege wird also mit der Abschaffung der Waisenhäuser ein gutes Geschäft machen. Sie kann sich diesen Gewinn aber auch gern gefallen lassen, denn selbst wenn es umgekehrt wäre, wenn die Familienpflege viel theurer wäre als das Waisenhaus, müßte man aus sachlichen Gründen jener den Vorzug geben. Die Ergebnisse, neben einander gehalten, zeugen laut gegen die Waisenhaus¬ erziehung. Die aus ihr hervorgegangenen Knaben sind minder anstellig, minder erwerbskrästig; kein Handwerker, der vergleichen gelernt hat, nimmt sie im Allgemeinen so gern wie andere Knaben aus derselben Volksschicht. Die Mädchen entbehren in höherem Grade als ihresgleichen der häuslichen Wirthschaftlichkeit und stellen ein unverhältnißmäßig bedeutendes Contingent zur Prostitution. Dies ist kein großes Wunder. Die Abschließung der Kinder vom ge¬ wöhnlichen Leben, wie sie das Waisenhaus mit sich bringt, nur zu häufig noch sogar vermöge einer besonderen Waisenuniform, hält ihre Entwickelung unausbleiblich nieder. Sie verhindert aus der einen Seite, daß sich ihnen das alte Gebot Gottes an die Menschheit: „Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen" früh genug in die empfängliche Seele präge. Für sie ist alles Nothwendige ja stets in gleicher Fülle da, ohne daß sie je¬ mals erfuhren, woher es ihnen kommt. Sie sehen nicht den Vater die Stirne furchen und die Mutter weinen, wenn es einmal knapp mit dem die Familie erhaltenden Verdienste geht. Der Zusammenhang zwischen Arbeiten und Essen entzieht sich ihrer Wahrnehmung gänzlich. Sie können also auch später nicht so aufgelegt wie andere arme Leute sein, es für ihre eigene Schuld anzusehen, wenn sie hungern oder frieren müssen, und eher jede Art von Anstrengung auf sich zu nehmen, als ein widerwillig geschenktes oder ein schimpflich erwor¬ benes Brot zu essen. Dies muß in den Knaben den Trieb abstumpfen, der sonst erst zur Selbstausbildung und später zur Selbsterhaltung anspornt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/499
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/499>, abgerufen am 29.06.2024.