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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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sem Grunde wird Rußland der Wiederherstellung des polnischen Namens,
so eng die Grenzen desselben auch gezogen werden mögen, stets feindlich ge¬
genüber stehen -- auch der aufgeklärteste polnische Patriotismus nicht im
Stande sein, Rußlands Besorgniß wegen Lithauens zu beschwichtigen oder
die Zukunft dieses Landes außer Rechnung zu setzen.

Soviel über die Brochüre "Russisch-Polen", deren Verdienst wir im
Uebrigen vollständig würdigen und die zum Besten gehört, was seit Jahren
über die polnische Frage überhaupt geschrieben worden ist. -- Das zweite
der von uns genannten Bücher "Polen. Vergangenheit, Gegenwart, Zu¬
kunft", rührt unzweifelhaft aus einer polnischen Feder her und beweist, daß
es Polen giebt, die in der That etwas von der Geschichte der letzten Decen-
nien gelernt haben. In erfreulichem Gegensatz zu der Selbstverblendung,
welche z. B. Smolka's "Russie et ^.utrieds" auf jeder Seite zeigt, geht der
Verfasser mit den Fehlern des polnischen National-Charakters unbarmherzig
ins Gericht, fällt er über die Widersinnigkeit des alt-polnischen Staatswesens
ein Urtheil, das von wirklicher Einsicht in die Gründe der Katastrophe von
1778 und gründlichen Studien zeugt. Auch die Darstellung der gegen¬
wärtigen Lage in den einzelnen Theilen der ehemaligen Republik ist im
Wesentlichen eine richtige und gründliche. Der Verfasser hat sich die Mühe,
das historische und statistische Material durchzuarbeiten, nicht verdrießen lassen
und sein Buch kann Allen, die sich über die thatsächlichen Verhältnisse infor-
miren wollen, bestens empfohlen werden, weil es die Hauptresultate der Ent¬
wickelung der letzten sechszig Jahre anschaulich und übersichtlich zusammen¬
stellt. Es zeigt von einem nicht gewöhnlichen Abstractionsvermögen. daß der
Verfasser, obgleich Pole, die Möglichkeit der Wiedergewinnung Litthauens
nachdrücklich in Frage stellt, geltend macht, daß Rußland diesen Besitz mit
allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln behaupten werde und behaupten
müsse und daß die Constituirung eines föderativem Zwischenreichs immer noch
wahrscheinlicher sei, als die Erneuerung der alten Verbindung zwischen Lit¬
thauen und Polen. -- Was den eigentlich positiven Theil der Schrift, das
Zukunfts-Programm des Verfassers, anlangt, so bewegt dasselbe sich in An¬
deutungen, die nicht scharf genug umschrieben sind, um eine eingehende Kritik
nothwendig zu machen. Daß jeder polnische Staat sich auf Preußen stützen
mußte, ist ganz richtig, -- entschieden unrichtig dagegen, wenn die Revindi-
cation eines Theils von Posen und Westpreußen auch nur als Möglichkeit
behandelt wird. Wir brauchen den Verfasser nur an die von ihm selbst con-
statirte Thatsache zu erinnern, "daß sich in den 50 Jahren preußischer Herr¬
schaft der Werth von Grund und Arbeit vervielfacht, die Zahl der Lernen
den versiebenfacht, die Bevölkerungszahl verdoppelt hat", um in dieser Be¬
ziehung jede Abwägung des Pro und Contra abzuschneiden. Im Uebrigen


sem Grunde wird Rußland der Wiederherstellung des polnischen Namens,
so eng die Grenzen desselben auch gezogen werden mögen, stets feindlich ge¬
genüber stehen — auch der aufgeklärteste polnische Patriotismus nicht im
Stande sein, Rußlands Besorgniß wegen Lithauens zu beschwichtigen oder
die Zukunft dieses Landes außer Rechnung zu setzen.

Soviel über die Brochüre „Russisch-Polen", deren Verdienst wir im
Uebrigen vollständig würdigen und die zum Besten gehört, was seit Jahren
über die polnische Frage überhaupt geschrieben worden ist. — Das zweite
der von uns genannten Bücher „Polen. Vergangenheit, Gegenwart, Zu¬
kunft", rührt unzweifelhaft aus einer polnischen Feder her und beweist, daß
es Polen giebt, die in der That etwas von der Geschichte der letzten Decen-
nien gelernt haben. In erfreulichem Gegensatz zu der Selbstverblendung,
welche z. B. Smolka's „Russie et ^.utrieds" auf jeder Seite zeigt, geht der
Verfasser mit den Fehlern des polnischen National-Charakters unbarmherzig
ins Gericht, fällt er über die Widersinnigkeit des alt-polnischen Staatswesens
ein Urtheil, das von wirklicher Einsicht in die Gründe der Katastrophe von
1778 und gründlichen Studien zeugt. Auch die Darstellung der gegen¬
wärtigen Lage in den einzelnen Theilen der ehemaligen Republik ist im
Wesentlichen eine richtige und gründliche. Der Verfasser hat sich die Mühe,
das historische und statistische Material durchzuarbeiten, nicht verdrießen lassen
und sein Buch kann Allen, die sich über die thatsächlichen Verhältnisse infor-
miren wollen, bestens empfohlen werden, weil es die Hauptresultate der Ent¬
wickelung der letzten sechszig Jahre anschaulich und übersichtlich zusammen¬
stellt. Es zeigt von einem nicht gewöhnlichen Abstractionsvermögen. daß der
Verfasser, obgleich Pole, die Möglichkeit der Wiedergewinnung Litthauens
nachdrücklich in Frage stellt, geltend macht, daß Rußland diesen Besitz mit
allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln behaupten werde und behaupten
müsse und daß die Constituirung eines föderativem Zwischenreichs immer noch
wahrscheinlicher sei, als die Erneuerung der alten Verbindung zwischen Lit¬
thauen und Polen. — Was den eigentlich positiven Theil der Schrift, das
Zukunfts-Programm des Verfassers, anlangt, so bewegt dasselbe sich in An¬
deutungen, die nicht scharf genug umschrieben sind, um eine eingehende Kritik
nothwendig zu machen. Daß jeder polnische Staat sich auf Preußen stützen
mußte, ist ganz richtig, — entschieden unrichtig dagegen, wenn die Revindi-
cation eines Theils von Posen und Westpreußen auch nur als Möglichkeit
behandelt wird. Wir brauchen den Verfasser nur an die von ihm selbst con-
statirte Thatsache zu erinnern, „daß sich in den 50 Jahren preußischer Herr¬
schaft der Werth von Grund und Arbeit vervielfacht, die Zahl der Lernen
den versiebenfacht, die Bevölkerungszahl verdoppelt hat", um in dieser Be¬
ziehung jede Abwägung des Pro und Contra abzuschneiden. Im Uebrigen


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[0469] sem Grunde wird Rußland der Wiederherstellung des polnischen Namens, so eng die Grenzen desselben auch gezogen werden mögen, stets feindlich ge¬ genüber stehen — auch der aufgeklärteste polnische Patriotismus nicht im Stande sein, Rußlands Besorgniß wegen Lithauens zu beschwichtigen oder die Zukunft dieses Landes außer Rechnung zu setzen. Soviel über die Brochüre „Russisch-Polen", deren Verdienst wir im Uebrigen vollständig würdigen und die zum Besten gehört, was seit Jahren über die polnische Frage überhaupt geschrieben worden ist. — Das zweite der von uns genannten Bücher „Polen. Vergangenheit, Gegenwart, Zu¬ kunft", rührt unzweifelhaft aus einer polnischen Feder her und beweist, daß es Polen giebt, die in der That etwas von der Geschichte der letzten Decen- nien gelernt haben. In erfreulichem Gegensatz zu der Selbstverblendung, welche z. B. Smolka's „Russie et ^.utrieds" auf jeder Seite zeigt, geht der Verfasser mit den Fehlern des polnischen National-Charakters unbarmherzig ins Gericht, fällt er über die Widersinnigkeit des alt-polnischen Staatswesens ein Urtheil, das von wirklicher Einsicht in die Gründe der Katastrophe von 1778 und gründlichen Studien zeugt. Auch die Darstellung der gegen¬ wärtigen Lage in den einzelnen Theilen der ehemaligen Republik ist im Wesentlichen eine richtige und gründliche. Der Verfasser hat sich die Mühe, das historische und statistische Material durchzuarbeiten, nicht verdrießen lassen und sein Buch kann Allen, die sich über die thatsächlichen Verhältnisse infor- miren wollen, bestens empfohlen werden, weil es die Hauptresultate der Ent¬ wickelung der letzten sechszig Jahre anschaulich und übersichtlich zusammen¬ stellt. Es zeigt von einem nicht gewöhnlichen Abstractionsvermögen. daß der Verfasser, obgleich Pole, die Möglichkeit der Wiedergewinnung Litthauens nachdrücklich in Frage stellt, geltend macht, daß Rußland diesen Besitz mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln behaupten werde und behaupten müsse und daß die Constituirung eines föderativem Zwischenreichs immer noch wahrscheinlicher sei, als die Erneuerung der alten Verbindung zwischen Lit¬ thauen und Polen. — Was den eigentlich positiven Theil der Schrift, das Zukunfts-Programm des Verfassers, anlangt, so bewegt dasselbe sich in An¬ deutungen, die nicht scharf genug umschrieben sind, um eine eingehende Kritik nothwendig zu machen. Daß jeder polnische Staat sich auf Preußen stützen mußte, ist ganz richtig, — entschieden unrichtig dagegen, wenn die Revindi- cation eines Theils von Posen und Westpreußen auch nur als Möglichkeit behandelt wird. Wir brauchen den Verfasser nur an die von ihm selbst con- statirte Thatsache zu erinnern, „daß sich in den 50 Jahren preußischer Herr¬ schaft der Werth von Grund und Arbeit vervielfacht, die Zahl der Lernen den versiebenfacht, die Bevölkerungszahl verdoppelt hat", um in dieser Be¬ ziehung jede Abwägung des Pro und Contra abzuschneiden. Im Uebrigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/469>, abgerufen am 28.09.2024.