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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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ist dieser fleißigen Schrift das Zeugniß der Besonnenheit und des Reichthums
an lehrreichen Daten zweifellos auszustellen.

Die im vorigen Jahre erschienenen "Drei Briefe aus dem Orient"
stehen auf durchaus anderem Standpunkt als die beiden erstgenannten Schrif¬
ten, indem sie die Wiederherstellung des alten Polen im Zusammenhang mit
einer vollständigen Umgestaltung der europäischen Karte beantragen und diese
letztere durch eine Collectivforderung der übrigen europäischen Großmächte an
Rußland und der Türkei erreichen wollen. Den Grundgedanken dieser Schrift,
daß die Lösung der orientalischen Frage mit Nothwendigkeit eine vollständige
Revision des europäischen Systems und eine neue Regelung der polnischen
Frage herbeiführen müsse, vermögen wir uns anzueignen aber weiter können
wir dem Verfasser nicht folgen. Daß die orientalische Frage anders als mit
dem Schwert entschieden werden könne und daß selbst der unwahrscheinliche
Fall einer Verständigung aller außerrussischen Mächte über dieselbe eine
friedliche Lösung nicht zu erzwingen vermöchte, steht für uns zweifellos fest.
Damit ist aber zugleich gesagt, daß jedes Bemühen, die Grenzen Europas
nach Bewältigung des morgenländischen Problems zu errathen, vergeblich ist.
Von dem Ausgang des unvermeidlichen Kampfs und den Wechselfällen,
welche denselben begleiten, wird abhängen, was folgt und jede theoretische
Construction s, priori, so geistreich sie auch sein mag, hat die Präsumption
nicht für, sondern gegen sich.'

Daß die Frage nach der Zukunftund namentlich nach der Zukunft des im
Jahre 1863 nicht gelösten, sondern nur verwirrten polnischen Problems, immer
wieder aufgeworfen wird, läßt sich nicht abschneiden und kann an und sür
sich noch nicht als Vorgreisen verurtheilt werden. Aber der Boden des That¬
sächlichen und die Ueberzeugung, daß die menschliche Natur trotz ihrer Ver¬
vollkommnungsfähigkeit wesentlich unveränderlich ist, müssen festgehalten
werden, wenn wir uns bei solchen Zukunftsbetrachtungen nicht ins Boden¬
lose verlieren sollen. Bevor das Geschick Deutschlands nicht endgiltig ent¬
schieden ist, kann von der Zukunft Polens, wenn eine solche anders möglich
ist, überhaupt nicht die Rede sein. Unseres Erachtens beschränkt die Ausgabe
der Publicistik sich in dieser Beziehung darauf, für sorgfältige Registrirung
der Thatsachen Sorge zu tragen, welche sich in dem wenig bekannten Osten
vollziehen, um der Arbeit der Zukunft das Material entgegen zu tragen,
dessen sie bedarf und das ihr gegenwärtig noch fehlt




ist dieser fleißigen Schrift das Zeugniß der Besonnenheit und des Reichthums
an lehrreichen Daten zweifellos auszustellen.

Die im vorigen Jahre erschienenen „Drei Briefe aus dem Orient"
stehen auf durchaus anderem Standpunkt als die beiden erstgenannten Schrif¬
ten, indem sie die Wiederherstellung des alten Polen im Zusammenhang mit
einer vollständigen Umgestaltung der europäischen Karte beantragen und diese
letztere durch eine Collectivforderung der übrigen europäischen Großmächte an
Rußland und der Türkei erreichen wollen. Den Grundgedanken dieser Schrift,
daß die Lösung der orientalischen Frage mit Nothwendigkeit eine vollständige
Revision des europäischen Systems und eine neue Regelung der polnischen
Frage herbeiführen müsse, vermögen wir uns anzueignen aber weiter können
wir dem Verfasser nicht folgen. Daß die orientalische Frage anders als mit
dem Schwert entschieden werden könne und daß selbst der unwahrscheinliche
Fall einer Verständigung aller außerrussischen Mächte über dieselbe eine
friedliche Lösung nicht zu erzwingen vermöchte, steht für uns zweifellos fest.
Damit ist aber zugleich gesagt, daß jedes Bemühen, die Grenzen Europas
nach Bewältigung des morgenländischen Problems zu errathen, vergeblich ist.
Von dem Ausgang des unvermeidlichen Kampfs und den Wechselfällen,
welche denselben begleiten, wird abhängen, was folgt und jede theoretische
Construction s, priori, so geistreich sie auch sein mag, hat die Präsumption
nicht für, sondern gegen sich.'

Daß die Frage nach der Zukunftund namentlich nach der Zukunft des im
Jahre 1863 nicht gelösten, sondern nur verwirrten polnischen Problems, immer
wieder aufgeworfen wird, läßt sich nicht abschneiden und kann an und sür
sich noch nicht als Vorgreisen verurtheilt werden. Aber der Boden des That¬
sächlichen und die Ueberzeugung, daß die menschliche Natur trotz ihrer Ver¬
vollkommnungsfähigkeit wesentlich unveränderlich ist, müssen festgehalten
werden, wenn wir uns bei solchen Zukunftsbetrachtungen nicht ins Boden¬
lose verlieren sollen. Bevor das Geschick Deutschlands nicht endgiltig ent¬
schieden ist, kann von der Zukunft Polens, wenn eine solche anders möglich
ist, überhaupt nicht die Rede sein. Unseres Erachtens beschränkt die Ausgabe
der Publicistik sich in dieser Beziehung darauf, für sorgfältige Registrirung
der Thatsachen Sorge zu tragen, welche sich in dem wenig bekannten Osten
vollziehen, um der Arbeit der Zukunft das Material entgegen zu tragen,
dessen sie bedarf und das ihr gegenwärtig noch fehlt




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/470>, abgerufen am 29.06.2024.