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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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lichkeit einer dauernden Assimilation Congreß-Polens durch den russischen
Staat, dessen Stellung an den Niederungen der Weichsel schon jetzt täglich
schwerer wird und sobald die agrarischen Auseinandersetzungen zwischen Herren
und Bauern beendet sind, unhaltbar werden muß. Ueber die entgegenstehenden
Schwierigkeiten vermögen wir indessen nicht so leicht hinwegzukommen, wie es der
Verf. trotzseiner gründlichen Kenntniß des Bodens thut, auf welchem die polnische
Frage spielt. Zunächst sind wir bezüglich West-Galiziens durchaus anderer
Meinung, wie der Verf. Dieses polnischste aller polnischen Länder würde,
wenn Congreßpolen wiederhergestellt wird, in jedem Fall zu diesem Staat ge¬
zogen werden und gezogen werden müssen. Das würde Oestreich nicht hin¬
dern können und die Ruthenen, welche erst östlich vom San ihre Sitze haben,
kämen für den Westen der heutigen galizisch-ludomerischen Provinz gar nicht
in Betracht. Aber hier liegt die eigentliche Schwierigkeit noch gar nicht.
Selbst den zur Zeit noch nicht wahrscheinlichen Fall angenommen, daß die
in den Besitz des s. g. Königreichs eingesetzten Polen gescheidt und einflu߬
reich genug sein sollten, alle Gedanken an das Großherzogthum Polen fahren
zu lassen, und die Galizier zum Verzicht auf das halb ruthenische Ostgalizien
zu zwingen, blieben zwei Probleme übrig, die wenigstens unter den gegen¬
wärtigen Umständen unlösbar erscheinen: was soll Oestreich mit dem vom
Westen abgerissenen Ostgalizien anfangen (wo die Ruthenen der herrschende
Stamm würde) und was wird aus Litthauen und der Ukraine? Unser Verf.
meint, da die Polen in diesen Landschaften kaum ein Zehntel der Bevölke¬
rung bildeten und sich selbständig nicht zu behaupten vermöchten, sei der
Jahrhunderte alte Streit über den Besitz dieses Landes bereits thatsächlich
zu Gunsten der Russen entschieden. Dem ist nicht so. Grade wie im Kö¬
nigreich wird auch in dem General-Gouvernement Wtlna die neue russische
Ordnung der Dinge nur zwangsweise aufrecht erhalten und seit das Projekt,
Polonismus und Katholicismus durch Errichtung einer russisch-redenden katholi¬
schen Kirche von einander zu trennen, aufgegeben worden ist, geben auch die
Missionären Demokraten Moskaus zu, daß die Russificirung dieses Landes heute
ebenso wenig vollbracht sei, wie vor dem Jahre 1863. Soll sie künftig auch nur
möglich bleiben, so ist nothwendig, daß die förmliche Proseription des polnischen
Elements aufrecht erhalten werde. Geschieht das nicht, findet dasselbe an einem
wieder hergestellten Königreich Warschau Rückhalt, so wird die Russification
Litthauens zur Unmöglichkeit. An dieser ist Rußland aber nicht nur mit
Rücksicht auf die polnische Frage, sondern wesentlich aus Gründen der inne¬
ren russischen Politik gelegen. Kann in Wilna, Kowno und Grodno das
System bäuerlicher Präponderenz über' die westeuropäisch gebildeten höheren
Classen der Gesellschaft nicht durchgeführt werden, so ist es um dieses System,
um das oberste Ziel der russischen Nationalpartei überhaupt geschehen. Aus die-


lichkeit einer dauernden Assimilation Congreß-Polens durch den russischen
Staat, dessen Stellung an den Niederungen der Weichsel schon jetzt täglich
schwerer wird und sobald die agrarischen Auseinandersetzungen zwischen Herren
und Bauern beendet sind, unhaltbar werden muß. Ueber die entgegenstehenden
Schwierigkeiten vermögen wir indessen nicht so leicht hinwegzukommen, wie es der
Verf. trotzseiner gründlichen Kenntniß des Bodens thut, auf welchem die polnische
Frage spielt. Zunächst sind wir bezüglich West-Galiziens durchaus anderer
Meinung, wie der Verf. Dieses polnischste aller polnischen Länder würde,
wenn Congreßpolen wiederhergestellt wird, in jedem Fall zu diesem Staat ge¬
zogen werden und gezogen werden müssen. Das würde Oestreich nicht hin¬
dern können und die Ruthenen, welche erst östlich vom San ihre Sitze haben,
kämen für den Westen der heutigen galizisch-ludomerischen Provinz gar nicht
in Betracht. Aber hier liegt die eigentliche Schwierigkeit noch gar nicht.
Selbst den zur Zeit noch nicht wahrscheinlichen Fall angenommen, daß die
in den Besitz des s. g. Königreichs eingesetzten Polen gescheidt und einflu߬
reich genug sein sollten, alle Gedanken an das Großherzogthum Polen fahren
zu lassen, und die Galizier zum Verzicht auf das halb ruthenische Ostgalizien
zu zwingen, blieben zwei Probleme übrig, die wenigstens unter den gegen¬
wärtigen Umständen unlösbar erscheinen: was soll Oestreich mit dem vom
Westen abgerissenen Ostgalizien anfangen (wo die Ruthenen der herrschende
Stamm würde) und was wird aus Litthauen und der Ukraine? Unser Verf.
meint, da die Polen in diesen Landschaften kaum ein Zehntel der Bevölke¬
rung bildeten und sich selbständig nicht zu behaupten vermöchten, sei der
Jahrhunderte alte Streit über den Besitz dieses Landes bereits thatsächlich
zu Gunsten der Russen entschieden. Dem ist nicht so. Grade wie im Kö¬
nigreich wird auch in dem General-Gouvernement Wtlna die neue russische
Ordnung der Dinge nur zwangsweise aufrecht erhalten und seit das Projekt,
Polonismus und Katholicismus durch Errichtung einer russisch-redenden katholi¬
schen Kirche von einander zu trennen, aufgegeben worden ist, geben auch die
Missionären Demokraten Moskaus zu, daß die Russificirung dieses Landes heute
ebenso wenig vollbracht sei, wie vor dem Jahre 1863. Soll sie künftig auch nur
möglich bleiben, so ist nothwendig, daß die förmliche Proseription des polnischen
Elements aufrecht erhalten werde. Geschieht das nicht, findet dasselbe an einem
wieder hergestellten Königreich Warschau Rückhalt, so wird die Russification
Litthauens zur Unmöglichkeit. An dieser ist Rußland aber nicht nur mit
Rücksicht auf die polnische Frage, sondern wesentlich aus Gründen der inne¬
ren russischen Politik gelegen. Kann in Wilna, Kowno und Grodno das
System bäuerlicher Präponderenz über' die westeuropäisch gebildeten höheren
Classen der Gesellschaft nicht durchgeführt werden, so ist es um dieses System,
um das oberste Ziel der russischen Nationalpartei überhaupt geschehen. Aus die-


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[0468] lichkeit einer dauernden Assimilation Congreß-Polens durch den russischen Staat, dessen Stellung an den Niederungen der Weichsel schon jetzt täglich schwerer wird und sobald die agrarischen Auseinandersetzungen zwischen Herren und Bauern beendet sind, unhaltbar werden muß. Ueber die entgegenstehenden Schwierigkeiten vermögen wir indessen nicht so leicht hinwegzukommen, wie es der Verf. trotzseiner gründlichen Kenntniß des Bodens thut, auf welchem die polnische Frage spielt. Zunächst sind wir bezüglich West-Galiziens durchaus anderer Meinung, wie der Verf. Dieses polnischste aller polnischen Länder würde, wenn Congreßpolen wiederhergestellt wird, in jedem Fall zu diesem Staat ge¬ zogen werden und gezogen werden müssen. Das würde Oestreich nicht hin¬ dern können und die Ruthenen, welche erst östlich vom San ihre Sitze haben, kämen für den Westen der heutigen galizisch-ludomerischen Provinz gar nicht in Betracht. Aber hier liegt die eigentliche Schwierigkeit noch gar nicht. Selbst den zur Zeit noch nicht wahrscheinlichen Fall angenommen, daß die in den Besitz des s. g. Königreichs eingesetzten Polen gescheidt und einflu߬ reich genug sein sollten, alle Gedanken an das Großherzogthum Polen fahren zu lassen, und die Galizier zum Verzicht auf das halb ruthenische Ostgalizien zu zwingen, blieben zwei Probleme übrig, die wenigstens unter den gegen¬ wärtigen Umständen unlösbar erscheinen: was soll Oestreich mit dem vom Westen abgerissenen Ostgalizien anfangen (wo die Ruthenen der herrschende Stamm würde) und was wird aus Litthauen und der Ukraine? Unser Verf. meint, da die Polen in diesen Landschaften kaum ein Zehntel der Bevölke¬ rung bildeten und sich selbständig nicht zu behaupten vermöchten, sei der Jahrhunderte alte Streit über den Besitz dieses Landes bereits thatsächlich zu Gunsten der Russen entschieden. Dem ist nicht so. Grade wie im Kö¬ nigreich wird auch in dem General-Gouvernement Wtlna die neue russische Ordnung der Dinge nur zwangsweise aufrecht erhalten und seit das Projekt, Polonismus und Katholicismus durch Errichtung einer russisch-redenden katholi¬ schen Kirche von einander zu trennen, aufgegeben worden ist, geben auch die Missionären Demokraten Moskaus zu, daß die Russificirung dieses Landes heute ebenso wenig vollbracht sei, wie vor dem Jahre 1863. Soll sie künftig auch nur möglich bleiben, so ist nothwendig, daß die förmliche Proseription des polnischen Elements aufrecht erhalten werde. Geschieht das nicht, findet dasselbe an einem wieder hergestellten Königreich Warschau Rückhalt, so wird die Russification Litthauens zur Unmöglichkeit. An dieser ist Rußland aber nicht nur mit Rücksicht auf die polnische Frage, sondern wesentlich aus Gründen der inne¬ ren russischen Politik gelegen. Kann in Wilna, Kowno und Grodno das System bäuerlicher Präponderenz über' die westeuropäisch gebildeten höheren Classen der Gesellschaft nicht durchgeführt werden, so ist es um dieses System, um das oberste Ziel der russischen Nationalpartei überhaupt geschehen. Aus die-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/468>, abgerufen am 29.06.2024.