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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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trächtliches Wort mitzureden haben wird, besteht für den preußischen Staat
nicht mehr; Preußen allein kann schon heute sagen, daß es die im vorigen
Jahrhundert eingegangene Schuld wett gemacht, die Fähigkeit besessen hat,
die bei der Theilung Polens übernommene Aufgabe zu lösen.

Wesentlich von diesem Standpunkte aus tritt die erste der drei oben an¬
geführten Schriften an die polnische Frage heran. Wegen der nüchternen
Klarheit ihrer Darstellungsweise und der maßvollen Ruhe ihrer Deduction
müssen wir der Brochüre "Russisch-Polen und die osteuropäischen
Interessen" den ersten Platz unter den drei Flugschriften einräumen, von
denen hier berichtet werden soll. Das düstere Bild, das der anonyme Ver-
fasser von der gegenwärtigen Lage Russisch-Polens, von der Unsittlichkeit
und Undurchführbarkeit des auf dasselbe angewandten Systems entwirft, ent¬
spricht Zug für Zug der strengsten Wahrheit und trägt allenthalben das
Gepräge der Autopsie des Darstellers, der sich außerdem als gewiegter und
eleganter Publicist von tüchtiger Schule erweist. Den Inhalt des ersten
Theils dieser blos 31 S. starken Schrift wird jeder Kenner russisch-polnischer
Zustände wörtlich unterschreiben müssen und keine andere Ausstellung an der-
selben ist möglich, als ein Bedauern darüber, daß es dem trefflich unterrich¬
teten Verfasser nicht gefallen hat, noch mehr in das Detail zu gehen. Was
er von der Wirthschaft des sogenannten Organisationscomites in Warschau
sagt, ist himmelweit verschieden von den übertriebenen Berichten tendenziöser
Parteiblätter, enthält aber nichtsdestoweniger eine sehr viel durchschlagendere
Beurtheilung des Miljutinschen Systems, als sie den Leuten möglich gewesen
ist, die blos vom Hörensagen und im Gehorsam gegen gewisse allgemeine
Principien urtheilten.

Auch mit den Grundgedanken des zweiten, positiven Theils dieser vor-
trefflichen kleinen Schrift müssen wir uns im Wesentlichen einverstanden er-
klären. Unter entschiedener Verwahrung gegen die unsinnige Utopie von der
Wiederherstellung der alt-polnischen Grenzen deducirt der Verfasser, daß zwar von
einer Wiedergabe des thatsächlich auf die Stufe höherer Civilisation erhobe¬
nen preußischen Polen nie und nimmer die Rede sein könne, es dagegen im
Interesse Europas wie Rußlands liege, das sogenannte Königreich (mit dem
die Russen thatsächlich nicht fertig werden könnten und dessen Zuziehung zu
Preußen gleichfalls nicht wünschenswerth erscheine) früher oder später als
nationalen Staat zweiten Ranges und mit Beschränkung auf sein gegen¬
wärtiges Gebiet wieder herzustellen. Ziemlich eingehend wird dann nach¬
gewiesen, daß die dauernde Erhaltung und die Aussöhnung eines solchen
Staats mit den Interessen seiner Nachbarn möglich und wahrscheinlich seien.

Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Combination können und wollen
wir nicht bestreiten; zur Zeit liegt dieselbe sogar sehr viel näher als die Mög-


trächtliches Wort mitzureden haben wird, besteht für den preußischen Staat
nicht mehr; Preußen allein kann schon heute sagen, daß es die im vorigen
Jahrhundert eingegangene Schuld wett gemacht, die Fähigkeit besessen hat,
die bei der Theilung Polens übernommene Aufgabe zu lösen.

Wesentlich von diesem Standpunkte aus tritt die erste der drei oben an¬
geführten Schriften an die polnische Frage heran. Wegen der nüchternen
Klarheit ihrer Darstellungsweise und der maßvollen Ruhe ihrer Deduction
müssen wir der Brochüre „Russisch-Polen und die osteuropäischen
Interessen" den ersten Platz unter den drei Flugschriften einräumen, von
denen hier berichtet werden soll. Das düstere Bild, das der anonyme Ver-
fasser von der gegenwärtigen Lage Russisch-Polens, von der Unsittlichkeit
und Undurchführbarkeit des auf dasselbe angewandten Systems entwirft, ent¬
spricht Zug für Zug der strengsten Wahrheit und trägt allenthalben das
Gepräge der Autopsie des Darstellers, der sich außerdem als gewiegter und
eleganter Publicist von tüchtiger Schule erweist. Den Inhalt des ersten
Theils dieser blos 31 S. starken Schrift wird jeder Kenner russisch-polnischer
Zustände wörtlich unterschreiben müssen und keine andere Ausstellung an der-
selben ist möglich, als ein Bedauern darüber, daß es dem trefflich unterrich¬
teten Verfasser nicht gefallen hat, noch mehr in das Detail zu gehen. Was
er von der Wirthschaft des sogenannten Organisationscomites in Warschau
sagt, ist himmelweit verschieden von den übertriebenen Berichten tendenziöser
Parteiblätter, enthält aber nichtsdestoweniger eine sehr viel durchschlagendere
Beurtheilung des Miljutinschen Systems, als sie den Leuten möglich gewesen
ist, die blos vom Hörensagen und im Gehorsam gegen gewisse allgemeine
Principien urtheilten.

Auch mit den Grundgedanken des zweiten, positiven Theils dieser vor-
trefflichen kleinen Schrift müssen wir uns im Wesentlichen einverstanden er-
klären. Unter entschiedener Verwahrung gegen die unsinnige Utopie von der
Wiederherstellung der alt-polnischen Grenzen deducirt der Verfasser, daß zwar von
einer Wiedergabe des thatsächlich auf die Stufe höherer Civilisation erhobe¬
nen preußischen Polen nie und nimmer die Rede sein könne, es dagegen im
Interesse Europas wie Rußlands liege, das sogenannte Königreich (mit dem
die Russen thatsächlich nicht fertig werden könnten und dessen Zuziehung zu
Preußen gleichfalls nicht wünschenswerth erscheine) früher oder später als
nationalen Staat zweiten Ranges und mit Beschränkung auf sein gegen¬
wärtiges Gebiet wieder herzustellen. Ziemlich eingehend wird dann nach¬
gewiesen, daß die dauernde Erhaltung und die Aussöhnung eines solchen
Staats mit den Interessen seiner Nachbarn möglich und wahrscheinlich seien.

Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Combination können und wollen
wir nicht bestreiten; zur Zeit liegt dieselbe sogar sehr viel näher als die Mög-


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[0467] trächtliches Wort mitzureden haben wird, besteht für den preußischen Staat nicht mehr; Preußen allein kann schon heute sagen, daß es die im vorigen Jahrhundert eingegangene Schuld wett gemacht, die Fähigkeit besessen hat, die bei der Theilung Polens übernommene Aufgabe zu lösen. Wesentlich von diesem Standpunkte aus tritt die erste der drei oben an¬ geführten Schriften an die polnische Frage heran. Wegen der nüchternen Klarheit ihrer Darstellungsweise und der maßvollen Ruhe ihrer Deduction müssen wir der Brochüre „Russisch-Polen und die osteuropäischen Interessen" den ersten Platz unter den drei Flugschriften einräumen, von denen hier berichtet werden soll. Das düstere Bild, das der anonyme Ver- fasser von der gegenwärtigen Lage Russisch-Polens, von der Unsittlichkeit und Undurchführbarkeit des auf dasselbe angewandten Systems entwirft, ent¬ spricht Zug für Zug der strengsten Wahrheit und trägt allenthalben das Gepräge der Autopsie des Darstellers, der sich außerdem als gewiegter und eleganter Publicist von tüchtiger Schule erweist. Den Inhalt des ersten Theils dieser blos 31 S. starken Schrift wird jeder Kenner russisch-polnischer Zustände wörtlich unterschreiben müssen und keine andere Ausstellung an der- selben ist möglich, als ein Bedauern darüber, daß es dem trefflich unterrich¬ teten Verfasser nicht gefallen hat, noch mehr in das Detail zu gehen. Was er von der Wirthschaft des sogenannten Organisationscomites in Warschau sagt, ist himmelweit verschieden von den übertriebenen Berichten tendenziöser Parteiblätter, enthält aber nichtsdestoweniger eine sehr viel durchschlagendere Beurtheilung des Miljutinschen Systems, als sie den Leuten möglich gewesen ist, die blos vom Hörensagen und im Gehorsam gegen gewisse allgemeine Principien urtheilten. Auch mit den Grundgedanken des zweiten, positiven Theils dieser vor- trefflichen kleinen Schrift müssen wir uns im Wesentlichen einverstanden er- klären. Unter entschiedener Verwahrung gegen die unsinnige Utopie von der Wiederherstellung der alt-polnischen Grenzen deducirt der Verfasser, daß zwar von einer Wiedergabe des thatsächlich auf die Stufe höherer Civilisation erhobe¬ nen preußischen Polen nie und nimmer die Rede sein könne, es dagegen im Interesse Europas wie Rußlands liege, das sogenannte Königreich (mit dem die Russen thatsächlich nicht fertig werden könnten und dessen Zuziehung zu Preußen gleichfalls nicht wünschenswerth erscheine) früher oder später als nationalen Staat zweiten Ranges und mit Beschränkung auf sein gegen¬ wärtiges Gebiet wieder herzustellen. Ziemlich eingehend wird dann nach¬ gewiesen, daß die dauernde Erhaltung und die Aussöhnung eines solchen Staats mit den Interessen seiner Nachbarn möglich und wahrscheinlich seien. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Combination können und wollen wir nicht bestreiten; zur Zeit liegt dieselbe sogar sehr viel näher als die Mög-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/467>, abgerufen am 29.06.2024.