Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

europäischen Concert und die vorschreitende Zersetzung der Türkei, haben die
Frage nach der Zukunft des Volks, welches zwischen die große Monarchie
des Ostens und unserer Culturwelt eingekeilt ist, in neue Wendung gebracht,
neue Gesichtspunkte für die Beurtheilung derselben eröffnet. Vor Allem ist
es der Gegensatz zwischen Rußland und Oestreich, zwischen der in Congreß-
polen und Litthauen befolgten Politik und dem in Galizien versuchten System
gewesen, der die gegenwärtige Lage der osteuropäischen Dinge unhaltbar ge¬
macht und die Gedanken gerade der nüchternsten Staatsmänner auf die Noth¬
wendigkeit gerichtet hat, die bisherigen Anschauungen über das Verhältniß
zwischen den beiden größten slavischen Nationen des Ostens einer Revision
zu unterziehen. Auch wenn man davon absieht, daß das Bestreben ein nach
Millionen zählendes Volk zum Verzicht auf seine Sprache, nationale Religion
und Cultur zu zwingen früher oder später mit einem furchtbaren Bankerott
enden muß, wird man eingestehen müssen, daß die polnische Autonomie in
Galizien und die systematische Polenvernichtung in Großpolen und Litthauen
auf einen Conflict hindrängen, der nur mit der Vernichtung des einen oder
des andern Systems en'tigem kann. Dieselben Kleinrussen, die in der Ukraine
zu eigentlichen Herren des Landes und Trägern eines demokratischen Bauern"
Staats gemacht werden sollen, spielen diesseit der russischen Grenze die Rolle
der Unterdrückten, die ihr Volksthum dem Einfluß des herrschenden Stammes,
opfern sollen; das in Rußland proscribirte polnisch-aristokratische Element wird
wiederum in Galizien als das allein berechtigte angesehen und nur noch darum
gestritten, ob diese Herrschaft eine durch das östreichische Staatsinteresse be¬
dingte oder eine unbedingte sein soll. Diese Gegensätze sind zum Ueberfluß
nicht nur nationaler und politischer, sondern außerdem noch kirchlicher Natur,
denn die Wiederherstellung des Bandes zwischen der griechisch-orthodoxen und
der unirten Kirche, welche russischerseits mit allen Staat und Kirche zu Ge¬
bote stehenden Mitteln betrieben wird, gilt dem katholischen Oestreich für den
Anfang des Endes und wird demgemäß in Ungarn und Galizien mit einer
Energie bekämpft, die zu der sonstigen Schwäche des Wiener Gouvernements
in verhängnißvollen Gegensatz steht.

Zwischen diesen Extremen polensreundlicher und panslavistisch-nivellirender
Politik steht die dritte der Theilungsmächte, Preußen, in stolzer Neutralität
da, von den Gegensätzen, die sich an seinen Grenzen bekämpfen, kaum ober¬
flächlich berührt. Nußland hat in bauernfreundlichem Radicalismus, Oestreich
in der Anlehnung an das aristokratische Princip das Mittel zur Abwendung
der Folgen des großen Staatsstreichs von 1778 gesucht, für die Sache Preu¬
ßens kämpft das moderne Bürgerthum mit den friedlichen, aber unbesieg¬
baren Waffen der Civilisation. Noch ein Jahrzehnt -- und die polnische
Frage, welche in den künftigen Geschicken Rußlands und Oestreichs ein be-


europäischen Concert und die vorschreitende Zersetzung der Türkei, haben die
Frage nach der Zukunft des Volks, welches zwischen die große Monarchie
des Ostens und unserer Culturwelt eingekeilt ist, in neue Wendung gebracht,
neue Gesichtspunkte für die Beurtheilung derselben eröffnet. Vor Allem ist
es der Gegensatz zwischen Rußland und Oestreich, zwischen der in Congreß-
polen und Litthauen befolgten Politik und dem in Galizien versuchten System
gewesen, der die gegenwärtige Lage der osteuropäischen Dinge unhaltbar ge¬
macht und die Gedanken gerade der nüchternsten Staatsmänner auf die Noth¬
wendigkeit gerichtet hat, die bisherigen Anschauungen über das Verhältniß
zwischen den beiden größten slavischen Nationen des Ostens einer Revision
zu unterziehen. Auch wenn man davon absieht, daß das Bestreben ein nach
Millionen zählendes Volk zum Verzicht auf seine Sprache, nationale Religion
und Cultur zu zwingen früher oder später mit einem furchtbaren Bankerott
enden muß, wird man eingestehen müssen, daß die polnische Autonomie in
Galizien und die systematische Polenvernichtung in Großpolen und Litthauen
auf einen Conflict hindrängen, der nur mit der Vernichtung des einen oder
des andern Systems en'tigem kann. Dieselben Kleinrussen, die in der Ukraine
zu eigentlichen Herren des Landes und Trägern eines demokratischen Bauern»
Staats gemacht werden sollen, spielen diesseit der russischen Grenze die Rolle
der Unterdrückten, die ihr Volksthum dem Einfluß des herrschenden Stammes,
opfern sollen; das in Rußland proscribirte polnisch-aristokratische Element wird
wiederum in Galizien als das allein berechtigte angesehen und nur noch darum
gestritten, ob diese Herrschaft eine durch das östreichische Staatsinteresse be¬
dingte oder eine unbedingte sein soll. Diese Gegensätze sind zum Ueberfluß
nicht nur nationaler und politischer, sondern außerdem noch kirchlicher Natur,
denn die Wiederherstellung des Bandes zwischen der griechisch-orthodoxen und
der unirten Kirche, welche russischerseits mit allen Staat und Kirche zu Ge¬
bote stehenden Mitteln betrieben wird, gilt dem katholischen Oestreich für den
Anfang des Endes und wird demgemäß in Ungarn und Galizien mit einer
Energie bekämpft, die zu der sonstigen Schwäche des Wiener Gouvernements
in verhängnißvollen Gegensatz steht.

Zwischen diesen Extremen polensreundlicher und panslavistisch-nivellirender
Politik steht die dritte der Theilungsmächte, Preußen, in stolzer Neutralität
da, von den Gegensätzen, die sich an seinen Grenzen bekämpfen, kaum ober¬
flächlich berührt. Nußland hat in bauernfreundlichem Radicalismus, Oestreich
in der Anlehnung an das aristokratische Princip das Mittel zur Abwendung
der Folgen des großen Staatsstreichs von 1778 gesucht, für die Sache Preu¬
ßens kämpft das moderne Bürgerthum mit den friedlichen, aber unbesieg¬
baren Waffen der Civilisation. Noch ein Jahrzehnt — und die polnische
Frage, welche in den künftigen Geschicken Rußlands und Oestreichs ein be-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0466" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123554"/>
          <p xml:id="ID_1318" prev="#ID_1317"> europäischen Concert und die vorschreitende Zersetzung der Türkei, haben die<lb/>
Frage nach der Zukunft des Volks, welches zwischen die große Monarchie<lb/>
des Ostens und unserer Culturwelt eingekeilt ist, in neue Wendung gebracht,<lb/>
neue Gesichtspunkte für die Beurtheilung derselben eröffnet. Vor Allem ist<lb/>
es der Gegensatz zwischen Rußland und Oestreich, zwischen der in Congreß-<lb/>
polen und Litthauen befolgten Politik und dem in Galizien versuchten System<lb/>
gewesen, der die gegenwärtige Lage der osteuropäischen Dinge unhaltbar ge¬<lb/>
macht und die Gedanken gerade der nüchternsten Staatsmänner auf die Noth¬<lb/>
wendigkeit gerichtet hat, die bisherigen Anschauungen über das Verhältniß<lb/>
zwischen den beiden größten slavischen Nationen des Ostens einer Revision<lb/>
zu unterziehen. Auch wenn man davon absieht, daß das Bestreben ein nach<lb/>
Millionen zählendes Volk zum Verzicht auf seine Sprache, nationale Religion<lb/>
und Cultur zu zwingen früher oder später mit einem furchtbaren Bankerott<lb/>
enden muß, wird man eingestehen müssen, daß die polnische Autonomie in<lb/>
Galizien und die systematische Polenvernichtung in Großpolen und Litthauen<lb/>
auf einen Conflict hindrängen, der nur mit der Vernichtung des einen oder<lb/>
des andern Systems en'tigem kann. Dieselben Kleinrussen, die in der Ukraine<lb/>
zu eigentlichen Herren des Landes und Trägern eines demokratischen Bauern»<lb/>
Staats gemacht werden sollen, spielen diesseit der russischen Grenze die Rolle<lb/>
der Unterdrückten, die ihr Volksthum dem Einfluß des herrschenden Stammes,<lb/>
opfern sollen; das in Rußland proscribirte polnisch-aristokratische Element wird<lb/>
wiederum in Galizien als das allein berechtigte angesehen und nur noch darum<lb/>
gestritten, ob diese Herrschaft eine durch das östreichische Staatsinteresse be¬<lb/>
dingte oder eine unbedingte sein soll. Diese Gegensätze sind zum Ueberfluß<lb/>
nicht nur nationaler und politischer, sondern außerdem noch kirchlicher Natur,<lb/>
denn die Wiederherstellung des Bandes zwischen der griechisch-orthodoxen und<lb/>
der unirten Kirche, welche russischerseits mit allen Staat und Kirche zu Ge¬<lb/>
bote stehenden Mitteln betrieben wird, gilt dem katholischen Oestreich für den<lb/>
Anfang des Endes und wird demgemäß in Ungarn und Galizien mit einer<lb/>
Energie bekämpft, die zu der sonstigen Schwäche des Wiener Gouvernements<lb/>
in verhängnißvollen Gegensatz steht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1319" next="#ID_1320"> Zwischen diesen Extremen polensreundlicher und panslavistisch-nivellirender<lb/>
Politik steht die dritte der Theilungsmächte, Preußen, in stolzer Neutralität<lb/>
da, von den Gegensätzen, die sich an seinen Grenzen bekämpfen, kaum ober¬<lb/>
flächlich berührt. Nußland hat in bauernfreundlichem Radicalismus, Oestreich<lb/>
in der Anlehnung an das aristokratische Princip das Mittel zur Abwendung<lb/>
der Folgen des großen Staatsstreichs von 1778 gesucht, für die Sache Preu¬<lb/>
ßens kämpft das moderne Bürgerthum mit den friedlichen, aber unbesieg¬<lb/>
baren Waffen der Civilisation. Noch ein Jahrzehnt &#x2014; und die polnische<lb/>
Frage, welche in den künftigen Geschicken Rußlands und Oestreichs ein be-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0466] europäischen Concert und die vorschreitende Zersetzung der Türkei, haben die Frage nach der Zukunft des Volks, welches zwischen die große Monarchie des Ostens und unserer Culturwelt eingekeilt ist, in neue Wendung gebracht, neue Gesichtspunkte für die Beurtheilung derselben eröffnet. Vor Allem ist es der Gegensatz zwischen Rußland und Oestreich, zwischen der in Congreß- polen und Litthauen befolgten Politik und dem in Galizien versuchten System gewesen, der die gegenwärtige Lage der osteuropäischen Dinge unhaltbar ge¬ macht und die Gedanken gerade der nüchternsten Staatsmänner auf die Noth¬ wendigkeit gerichtet hat, die bisherigen Anschauungen über das Verhältniß zwischen den beiden größten slavischen Nationen des Ostens einer Revision zu unterziehen. Auch wenn man davon absieht, daß das Bestreben ein nach Millionen zählendes Volk zum Verzicht auf seine Sprache, nationale Religion und Cultur zu zwingen früher oder später mit einem furchtbaren Bankerott enden muß, wird man eingestehen müssen, daß die polnische Autonomie in Galizien und die systematische Polenvernichtung in Großpolen und Litthauen auf einen Conflict hindrängen, der nur mit der Vernichtung des einen oder des andern Systems en'tigem kann. Dieselben Kleinrussen, die in der Ukraine zu eigentlichen Herren des Landes und Trägern eines demokratischen Bauern» Staats gemacht werden sollen, spielen diesseit der russischen Grenze die Rolle der Unterdrückten, die ihr Volksthum dem Einfluß des herrschenden Stammes, opfern sollen; das in Rußland proscribirte polnisch-aristokratische Element wird wiederum in Galizien als das allein berechtigte angesehen und nur noch darum gestritten, ob diese Herrschaft eine durch das östreichische Staatsinteresse be¬ dingte oder eine unbedingte sein soll. Diese Gegensätze sind zum Ueberfluß nicht nur nationaler und politischer, sondern außerdem noch kirchlicher Natur, denn die Wiederherstellung des Bandes zwischen der griechisch-orthodoxen und der unirten Kirche, welche russischerseits mit allen Staat und Kirche zu Ge¬ bote stehenden Mitteln betrieben wird, gilt dem katholischen Oestreich für den Anfang des Endes und wird demgemäß in Ungarn und Galizien mit einer Energie bekämpft, die zu der sonstigen Schwäche des Wiener Gouvernements in verhängnißvollen Gegensatz steht. Zwischen diesen Extremen polensreundlicher und panslavistisch-nivellirender Politik steht die dritte der Theilungsmächte, Preußen, in stolzer Neutralität da, von den Gegensätzen, die sich an seinen Grenzen bekämpfen, kaum ober¬ flächlich berührt. Nußland hat in bauernfreundlichem Radicalismus, Oestreich in der Anlehnung an das aristokratische Princip das Mittel zur Abwendung der Folgen des großen Staatsstreichs von 1778 gesucht, für die Sache Preu¬ ßens kämpft das moderne Bürgerthum mit den friedlichen, aber unbesieg¬ baren Waffen der Civilisation. Noch ein Jahrzehnt — und die polnische Frage, welche in den künftigen Geschicken Rußlands und Oestreichs ein be-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/466
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/466>, abgerufen am 29.06.2024.