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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Scheidung wie England im Jahre 1864. Um der bereits geltenden Frei¬
zügigkeit ihr volles Spiel zu gönnen, hat Preußen im Bundesrath beantragt,
eine zweijährige Frist der Erhitzung des Unterstützungswohnsitzes gleichmäßig
in allen Bundesstaaten für sämmtliche norddeutsche einzuführen; aber fast
sämmtliche andere Regierungen haben sich widersetzt und so ist dem Reichs¬
tage nur eine sehr nichtssagende Vorlage, die von einheitlicher Regelung der
Sache ganz absieht, zugegangen. Doch ist es ein öffentliches Geheimniß, daß
Preußen und das Bundeskanzleramt zu dem Liberalismus des Reichstages
die Zuversicht hegen, er werde Preußens ursprüngliche Intentionen wieder¬
herstellen. Dazu ist denn auch gute Aussicht. Die zweijährige Frist für den
Erwerb des Unterstützungswohnsitzes durch Aufenthalt dürfte das Mindeste
sein, was der Reichstag beschließen wird; und sobald das geschehen ist, wer¬
den Preußens siebzehn Stimmen und dominirender Einfluß im Bundesrath
eine würdigere Gelegenheit haben, ihr volles Gewicht in die Wagschale zu
werfen, als wenn es sich z. B. um ein Veto gegen die Aufhebung der Todes¬
strafe handelte.

Preußen macht der Unfreiheit der meisten anderen Bundesstaaten schon
ein Zugeständniß, wenn es sich mit zweijähriger Ersitzungssrist begnügt.
Seine eigene Gesetzgebung kennt als Regel blos einjährige Frist. Es sollte
daher auch in das neue Bundesgesetz jedenfalls die Clausel aufgenommen
werden, daß den Einzelstaaten unverwehrt bleibe, unter die allgemeine Frist
hinabzugehen, und nur verboten sein, darüber hinaufzusteigen. Es kann
doch den Hansestädten nicht schaden, wenn ihre Angehörigen in Preußen zu¬
künftig wie bisher schon nach zwölf Monaten heimathssässig werden, d. l).
ihnen von der Armentasche fallen, während sie ihrerseits die eingewanderten
Preußen erst nach vierundzwanzig Monaten Aufenthalt im Verarmungsfall zu
füttern brauchten! Und die Störung der Einheit, die daraus hervorginge,
würde bei der Tendenz, welche die Armenpflege heutzutage offenbar be¬
herrscht, von sehr vorübergehender Dauer, also auch nicht übermäßig zu
scheuen sein. Die Einrichtungen und Grundsätze der örtlichen Armenpflege zeit¬
gemäß zu revidiren, wird auch die zweijährige Frist schon die Stadt-Staaten
nöthigen, welche jetzt gar keine Dauer bloßen Aufenthalts die Wirkung haben
lassen, Jemandem einen gesetzlichen Anspruch auf öffentliche Armenversorgung
zu verschaffen. Haben sie aber Organisation und Praxis erst einmal wirk¬
sam reformirt, so kann einjährige Frist sie so wenig mehr schrecken, wie
zweijährige.

Dies ist überhaupt der Punkt, wo der Hase im Pfeffer liegt. Ham¬
burg. Bremen und Lübeck haben alle drei eine Art Bewußtsein, daß ihre
städtische Armenpflege in einem Schlendrian verkommen ist, der nicht allein
sie, sondern das ganze Gemeinwesen ernsten und vielleicht verhängnißvollen


Scheidung wie England im Jahre 1864. Um der bereits geltenden Frei¬
zügigkeit ihr volles Spiel zu gönnen, hat Preußen im Bundesrath beantragt,
eine zweijährige Frist der Erhitzung des Unterstützungswohnsitzes gleichmäßig
in allen Bundesstaaten für sämmtliche norddeutsche einzuführen; aber fast
sämmtliche andere Regierungen haben sich widersetzt und so ist dem Reichs¬
tage nur eine sehr nichtssagende Vorlage, die von einheitlicher Regelung der
Sache ganz absieht, zugegangen. Doch ist es ein öffentliches Geheimniß, daß
Preußen und das Bundeskanzleramt zu dem Liberalismus des Reichstages
die Zuversicht hegen, er werde Preußens ursprüngliche Intentionen wieder¬
herstellen. Dazu ist denn auch gute Aussicht. Die zweijährige Frist für den
Erwerb des Unterstützungswohnsitzes durch Aufenthalt dürfte das Mindeste
sein, was der Reichstag beschließen wird; und sobald das geschehen ist, wer¬
den Preußens siebzehn Stimmen und dominirender Einfluß im Bundesrath
eine würdigere Gelegenheit haben, ihr volles Gewicht in die Wagschale zu
werfen, als wenn es sich z. B. um ein Veto gegen die Aufhebung der Todes¬
strafe handelte.

Preußen macht der Unfreiheit der meisten anderen Bundesstaaten schon
ein Zugeständniß, wenn es sich mit zweijähriger Ersitzungssrist begnügt.
Seine eigene Gesetzgebung kennt als Regel blos einjährige Frist. Es sollte
daher auch in das neue Bundesgesetz jedenfalls die Clausel aufgenommen
werden, daß den Einzelstaaten unverwehrt bleibe, unter die allgemeine Frist
hinabzugehen, und nur verboten sein, darüber hinaufzusteigen. Es kann
doch den Hansestädten nicht schaden, wenn ihre Angehörigen in Preußen zu¬
künftig wie bisher schon nach zwölf Monaten heimathssässig werden, d. l).
ihnen von der Armentasche fallen, während sie ihrerseits die eingewanderten
Preußen erst nach vierundzwanzig Monaten Aufenthalt im Verarmungsfall zu
füttern brauchten! Und die Störung der Einheit, die daraus hervorginge,
würde bei der Tendenz, welche die Armenpflege heutzutage offenbar be¬
herrscht, von sehr vorübergehender Dauer, also auch nicht übermäßig zu
scheuen sein. Die Einrichtungen und Grundsätze der örtlichen Armenpflege zeit¬
gemäß zu revidiren, wird auch die zweijährige Frist schon die Stadt-Staaten
nöthigen, welche jetzt gar keine Dauer bloßen Aufenthalts die Wirkung haben
lassen, Jemandem einen gesetzlichen Anspruch auf öffentliche Armenversorgung
zu verschaffen. Haben sie aber Organisation und Praxis erst einmal wirk¬
sam reformirt, so kann einjährige Frist sie so wenig mehr schrecken, wie
zweijährige.

Dies ist überhaupt der Punkt, wo der Hase im Pfeffer liegt. Ham¬
burg. Bremen und Lübeck haben alle drei eine Art Bewußtsein, daß ihre
städtische Armenpflege in einem Schlendrian verkommen ist, der nicht allein
sie, sondern das ganze Gemeinwesen ernsten und vielleicht verhängnißvollen


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[0459] Scheidung wie England im Jahre 1864. Um der bereits geltenden Frei¬ zügigkeit ihr volles Spiel zu gönnen, hat Preußen im Bundesrath beantragt, eine zweijährige Frist der Erhitzung des Unterstützungswohnsitzes gleichmäßig in allen Bundesstaaten für sämmtliche norddeutsche einzuführen; aber fast sämmtliche andere Regierungen haben sich widersetzt und so ist dem Reichs¬ tage nur eine sehr nichtssagende Vorlage, die von einheitlicher Regelung der Sache ganz absieht, zugegangen. Doch ist es ein öffentliches Geheimniß, daß Preußen und das Bundeskanzleramt zu dem Liberalismus des Reichstages die Zuversicht hegen, er werde Preußens ursprüngliche Intentionen wieder¬ herstellen. Dazu ist denn auch gute Aussicht. Die zweijährige Frist für den Erwerb des Unterstützungswohnsitzes durch Aufenthalt dürfte das Mindeste sein, was der Reichstag beschließen wird; und sobald das geschehen ist, wer¬ den Preußens siebzehn Stimmen und dominirender Einfluß im Bundesrath eine würdigere Gelegenheit haben, ihr volles Gewicht in die Wagschale zu werfen, als wenn es sich z. B. um ein Veto gegen die Aufhebung der Todes¬ strafe handelte. Preußen macht der Unfreiheit der meisten anderen Bundesstaaten schon ein Zugeständniß, wenn es sich mit zweijähriger Ersitzungssrist begnügt. Seine eigene Gesetzgebung kennt als Regel blos einjährige Frist. Es sollte daher auch in das neue Bundesgesetz jedenfalls die Clausel aufgenommen werden, daß den Einzelstaaten unverwehrt bleibe, unter die allgemeine Frist hinabzugehen, und nur verboten sein, darüber hinaufzusteigen. Es kann doch den Hansestädten nicht schaden, wenn ihre Angehörigen in Preußen zu¬ künftig wie bisher schon nach zwölf Monaten heimathssässig werden, d. l). ihnen von der Armentasche fallen, während sie ihrerseits die eingewanderten Preußen erst nach vierundzwanzig Monaten Aufenthalt im Verarmungsfall zu füttern brauchten! Und die Störung der Einheit, die daraus hervorginge, würde bei der Tendenz, welche die Armenpflege heutzutage offenbar be¬ herrscht, von sehr vorübergehender Dauer, also auch nicht übermäßig zu scheuen sein. Die Einrichtungen und Grundsätze der örtlichen Armenpflege zeit¬ gemäß zu revidiren, wird auch die zweijährige Frist schon die Stadt-Staaten nöthigen, welche jetzt gar keine Dauer bloßen Aufenthalts die Wirkung haben lassen, Jemandem einen gesetzlichen Anspruch auf öffentliche Armenversorgung zu verschaffen. Haben sie aber Organisation und Praxis erst einmal wirk¬ sam reformirt, so kann einjährige Frist sie so wenig mehr schrecken, wie zweijährige. Dies ist überhaupt der Punkt, wo der Hase im Pfeffer liegt. Ham¬ burg. Bremen und Lübeck haben alle drei eine Art Bewußtsein, daß ihre städtische Armenpflege in einem Schlendrian verkommen ist, der nicht allein sie, sondern das ganze Gemeinwesen ernsten und vielleicht verhängnißvollen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/459>, abgerufen am 28.09.2024.