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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Es entsprach daher nur begründeter Erwartung, als der zuletzt genannte
Minister für Armenpflege -- so wird man den President of the Poor Law
Board wohl übersetzen dürfen -- im Jahre 1834 beantragte, die Heimaths-
gesetze ganz aufzuheben, oder wie wir sagen würden, Aufenthaltsort und
Unterstützungswohnsitz fortan zusammenfallen zu lassen. Die Stimmung des
Parlaments war günstig. Der Gesetzentwurf würde aller Wahrscheinlichkeit
nach Rechtskraft erlangt haben, wenn nicht die Frage dazwischen gefahren
wäre, ob mit der Aufhebung des Ausweisungsrechts in England und Wales
auch den westlichen Hafenstädten Liverpool, Bristol u. f. w. das Recht ge¬
nommen sein solle, sich der ihnen oft in Masse zuströmenden armen Jrländer
zu entledigen, und wenn diese Frage nicht unglücklicher Weise Mr. Batnes
anders beantwortet hätte, als sein Chef Lord Palmerston und die Mehrzahl
der sonst in Betracht kommenden Parlamentsmitglieder, nämlich verneinend.
Darüber gerieth die Förderung des Entwurfs ins Stocken; Baines bot seine
Entlassung an, aber man zog den Vater des Gesetzes dem vervollständigten,
auf die freisinnigste Weise ausgelegten Gesetze selbst vor, und so mißlang ein
ausnehmend hoffnungsvoller Besserungsversuch. Seitdem hat man die Sache
theils ein wenig aus dem Gesicht verloren, theils mit anderen dringenderen Aus¬
gaben zuviel zu thun gehabt, um sich ihrer handelnd anzunehmen. Aber er¬
ledigt ist sie damit natürlich nicht; sie wird bald von Neuem anklopfen, daß
man ihr öffne.

Hören wir, welche segensreichen Folgen Pashley von der Aufhebung der
Heimathsgesetze prophezeit: "Das wichtigste Ergebniß der Veränderung würde
der Fortschritt in der gesammten physischen und moralischen Lage des Tage¬
löhnerstandes sein. Geschicklichkeit und Charakter würden für ihn erst Werth
erlangen. Unterricht und Erziehung von Jugend auf, jetzt Dank einem un¬
gerechten und hinabdrückenden Gesetz der ganzen arbeitenden Classe äußerst
gleichgiliig, würden ein Gegenstand eifrigen Strebens werden. Der Tage¬
löhnerstand würde aufhören, eine Schande und ein Vorwurf für das Land
zu sein. Mit dem Pächter würde der Grundbesitzer sich in die Wohlthat
einer größeren Abnahme der unmittelbaren Kosten des Pauperismus theilen,
und obendrein keinen geringen Zuwachs zu den Freuden des Landes in der
Hebung finden, deren der Charakter der gesammten Landbevölkerung auf diese
Weise gewiß wäre. In den Fabrikbezirken würde der große und dauernde,
obwol weniger rasch eintretende Segen der Maßregel sich am schlagendsten
zeigen in Zeiten großer Handelsstockang und daraus hervorgehender Noth¬
stände. Gegenwärtig erliegen in solchen Fällen die Steuerzahler fast der
außerordentlichen Last; künstig würden sie sich durchgehends merklich er¬
leichtert fühlen u. s. f."

Norddeutschland steht in diesem Augenblicke vor einer ähnlichen Ent-


Es entsprach daher nur begründeter Erwartung, als der zuletzt genannte
Minister für Armenpflege — so wird man den President of the Poor Law
Board wohl übersetzen dürfen — im Jahre 1834 beantragte, die Heimaths-
gesetze ganz aufzuheben, oder wie wir sagen würden, Aufenthaltsort und
Unterstützungswohnsitz fortan zusammenfallen zu lassen. Die Stimmung des
Parlaments war günstig. Der Gesetzentwurf würde aller Wahrscheinlichkeit
nach Rechtskraft erlangt haben, wenn nicht die Frage dazwischen gefahren
wäre, ob mit der Aufhebung des Ausweisungsrechts in England und Wales
auch den westlichen Hafenstädten Liverpool, Bristol u. f. w. das Recht ge¬
nommen sein solle, sich der ihnen oft in Masse zuströmenden armen Jrländer
zu entledigen, und wenn diese Frage nicht unglücklicher Weise Mr. Batnes
anders beantwortet hätte, als sein Chef Lord Palmerston und die Mehrzahl
der sonst in Betracht kommenden Parlamentsmitglieder, nämlich verneinend.
Darüber gerieth die Förderung des Entwurfs ins Stocken; Baines bot seine
Entlassung an, aber man zog den Vater des Gesetzes dem vervollständigten,
auf die freisinnigste Weise ausgelegten Gesetze selbst vor, und so mißlang ein
ausnehmend hoffnungsvoller Besserungsversuch. Seitdem hat man die Sache
theils ein wenig aus dem Gesicht verloren, theils mit anderen dringenderen Aus¬
gaben zuviel zu thun gehabt, um sich ihrer handelnd anzunehmen. Aber er¬
ledigt ist sie damit natürlich nicht; sie wird bald von Neuem anklopfen, daß
man ihr öffne.

Hören wir, welche segensreichen Folgen Pashley von der Aufhebung der
Heimathsgesetze prophezeit: „Das wichtigste Ergebniß der Veränderung würde
der Fortschritt in der gesammten physischen und moralischen Lage des Tage¬
löhnerstandes sein. Geschicklichkeit und Charakter würden für ihn erst Werth
erlangen. Unterricht und Erziehung von Jugend auf, jetzt Dank einem un¬
gerechten und hinabdrückenden Gesetz der ganzen arbeitenden Classe äußerst
gleichgiliig, würden ein Gegenstand eifrigen Strebens werden. Der Tage¬
löhnerstand würde aufhören, eine Schande und ein Vorwurf für das Land
zu sein. Mit dem Pächter würde der Grundbesitzer sich in die Wohlthat
einer größeren Abnahme der unmittelbaren Kosten des Pauperismus theilen,
und obendrein keinen geringen Zuwachs zu den Freuden des Landes in der
Hebung finden, deren der Charakter der gesammten Landbevölkerung auf diese
Weise gewiß wäre. In den Fabrikbezirken würde der große und dauernde,
obwol weniger rasch eintretende Segen der Maßregel sich am schlagendsten
zeigen in Zeiten großer Handelsstockang und daraus hervorgehender Noth¬
stände. Gegenwärtig erliegen in solchen Fällen die Steuerzahler fast der
außerordentlichen Last; künstig würden sie sich durchgehends merklich er¬
leichtert fühlen u. s. f."

Norddeutschland steht in diesem Augenblicke vor einer ähnlichen Ent-


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[0458] Es entsprach daher nur begründeter Erwartung, als der zuletzt genannte Minister für Armenpflege — so wird man den President of the Poor Law Board wohl übersetzen dürfen — im Jahre 1834 beantragte, die Heimaths- gesetze ganz aufzuheben, oder wie wir sagen würden, Aufenthaltsort und Unterstützungswohnsitz fortan zusammenfallen zu lassen. Die Stimmung des Parlaments war günstig. Der Gesetzentwurf würde aller Wahrscheinlichkeit nach Rechtskraft erlangt haben, wenn nicht die Frage dazwischen gefahren wäre, ob mit der Aufhebung des Ausweisungsrechts in England und Wales auch den westlichen Hafenstädten Liverpool, Bristol u. f. w. das Recht ge¬ nommen sein solle, sich der ihnen oft in Masse zuströmenden armen Jrländer zu entledigen, und wenn diese Frage nicht unglücklicher Weise Mr. Batnes anders beantwortet hätte, als sein Chef Lord Palmerston und die Mehrzahl der sonst in Betracht kommenden Parlamentsmitglieder, nämlich verneinend. Darüber gerieth die Förderung des Entwurfs ins Stocken; Baines bot seine Entlassung an, aber man zog den Vater des Gesetzes dem vervollständigten, auf die freisinnigste Weise ausgelegten Gesetze selbst vor, und so mißlang ein ausnehmend hoffnungsvoller Besserungsversuch. Seitdem hat man die Sache theils ein wenig aus dem Gesicht verloren, theils mit anderen dringenderen Aus¬ gaben zuviel zu thun gehabt, um sich ihrer handelnd anzunehmen. Aber er¬ ledigt ist sie damit natürlich nicht; sie wird bald von Neuem anklopfen, daß man ihr öffne. Hören wir, welche segensreichen Folgen Pashley von der Aufhebung der Heimathsgesetze prophezeit: „Das wichtigste Ergebniß der Veränderung würde der Fortschritt in der gesammten physischen und moralischen Lage des Tage¬ löhnerstandes sein. Geschicklichkeit und Charakter würden für ihn erst Werth erlangen. Unterricht und Erziehung von Jugend auf, jetzt Dank einem un¬ gerechten und hinabdrückenden Gesetz der ganzen arbeitenden Classe äußerst gleichgiliig, würden ein Gegenstand eifrigen Strebens werden. Der Tage¬ löhnerstand würde aufhören, eine Schande und ein Vorwurf für das Land zu sein. Mit dem Pächter würde der Grundbesitzer sich in die Wohlthat einer größeren Abnahme der unmittelbaren Kosten des Pauperismus theilen, und obendrein keinen geringen Zuwachs zu den Freuden des Landes in der Hebung finden, deren der Charakter der gesammten Landbevölkerung auf diese Weise gewiß wäre. In den Fabrikbezirken würde der große und dauernde, obwol weniger rasch eintretende Segen der Maßregel sich am schlagendsten zeigen in Zeiten großer Handelsstockang und daraus hervorgehender Noth¬ stände. Gegenwärtig erliegen in solchen Fällen die Steuerzahler fast der außerordentlichen Last; künstig würden sie sich durchgehends merklich er¬ leichtert fühlen u. s. f." Norddeutschland steht in diesem Augenblicke vor einer ähnlichen Ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/458>, abgerufen am 29.06.2024.