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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Proben aussetzen würde, wenn von Bundes wegen der Damm des bestehen¬
den Heimathsrechts hinweggenommen würde. Daher der leidenschaftliche, ja
erbitterte Widerspruch gegen diese preußische Vorlage, selbst in einem so ruhi¬
gen, so freisinnigen und so bundesfreundlichen Blatte wie der "Weserzeitung".
Man will allenfalls wohl auch die erkannten Mängel der vaterstädtischen
Armenpflege abstellen; aber man möchte dazu nicht Hals über Kopf durch
die sonst drohenden Folgen eines wenn an sich auch noch so guten, noch so
nothwendigen Bundesgesetzes gezwungen sein. Jener Mangel an staats¬
männischer Voraussicht und Thatkraft, der die heutige hanseatische Politik
vielfach charakterisirt, macht sich wiederum einmal traurig geltend. An
der Stelle frischer praktischer und positiver Benutzung der umgewandelten
Chancen pflegt man nur eine im voraus zur Niederlage verdammte negative
Abwehr. Die Hamburger Armenpflege, vor siebenzig, achtzig Jahren das
bewunderte Vorbild der Zeit, hat sich heute auf die kahle und unhaltbare
Höhe der Staatsarmenpflege verstiegen. In Lübeck fließen die goldenen
Stiftungsquellen so reichlich, daß ohne zweckmäßig ableitende Canalisirung
eine Überschwemmung der Stadt mit arbeitsscheuen Gesinde! aus einer
weiten Umgegend sicher zu erwarten steht. Bremen hat bisher die "Fremden"
zwar zu den Kosten seiner öffentlichen Armenpflege beitragen, aber an den
eventuellen Gaben derselben nicht theilnehmen lassen. Darf die Reformthätig¬
keit der Bundesgesetzgebung vor einem so begründeten dreifachen XonzwWumus
stillstehen und umkehren?

In einer ganz anderen Richtung würden diese Städte, wenn der rechte
Geist sie beseelte, ihren materiellen Vortheil suchen, nämlich in einer solchen
mustergiltigen Umgestaltung und Entwickelung ihrer inneren Armenpflege,
daß keine Fluth von außen her einströmender Landstreicher die Macht hätte,
sie auch nur im entferntesten zu erschüttern. Dann könnten am Ende sie es
sein, die zuerst auf den künstlichen Damm der Unterstützungsanspruch-Erwer¬
bungsfrist ganz Verzicht leisteten. Nur unverbesserte Armenpflege hat diese
Schranke überhaupt nöthig. So lange sie aber besteht, zieht sie in Deutsch¬
land ähnliche, wenn auch Gottlob geringere Uebel nach sich, wie in Eng¬
land. Sie vergeudet Transport- und Bureaukosten in der Verwaltung,
Lebensaussichten und Lebensglück in ihren bedauernswürdigen menschlichen
Oojecten. Von Gottes und Rechts wegen sollten daher unter den heuti¬
gen Verkehrs- und Wirthschaftszuständen Ausenthalt und Unterstützungs-
Wohnsitz zusammenfallen. Ihre Auseinanderhaltung ist lediglich eines der
vielen Anzeichen des Zustandes langer Verwahrlosung und Zurückgeblieben¬
heit, in welchem sich unsere Armenpflege befindet. Fährt in diese ein kräftig
verjüngender Hauch, so werden ihre Träger bald aufhören, gegen die unver¬
meidlichen Consequenzen der Zugfreiheit zu eifern.




Proben aussetzen würde, wenn von Bundes wegen der Damm des bestehen¬
den Heimathsrechts hinweggenommen würde. Daher der leidenschaftliche, ja
erbitterte Widerspruch gegen diese preußische Vorlage, selbst in einem so ruhi¬
gen, so freisinnigen und so bundesfreundlichen Blatte wie der „Weserzeitung".
Man will allenfalls wohl auch die erkannten Mängel der vaterstädtischen
Armenpflege abstellen; aber man möchte dazu nicht Hals über Kopf durch
die sonst drohenden Folgen eines wenn an sich auch noch so guten, noch so
nothwendigen Bundesgesetzes gezwungen sein. Jener Mangel an staats¬
männischer Voraussicht und Thatkraft, der die heutige hanseatische Politik
vielfach charakterisirt, macht sich wiederum einmal traurig geltend. An
der Stelle frischer praktischer und positiver Benutzung der umgewandelten
Chancen pflegt man nur eine im voraus zur Niederlage verdammte negative
Abwehr. Die Hamburger Armenpflege, vor siebenzig, achtzig Jahren das
bewunderte Vorbild der Zeit, hat sich heute auf die kahle und unhaltbare
Höhe der Staatsarmenpflege verstiegen. In Lübeck fließen die goldenen
Stiftungsquellen so reichlich, daß ohne zweckmäßig ableitende Canalisirung
eine Überschwemmung der Stadt mit arbeitsscheuen Gesinde! aus einer
weiten Umgegend sicher zu erwarten steht. Bremen hat bisher die „Fremden"
zwar zu den Kosten seiner öffentlichen Armenpflege beitragen, aber an den
eventuellen Gaben derselben nicht theilnehmen lassen. Darf die Reformthätig¬
keit der Bundesgesetzgebung vor einem so begründeten dreifachen XonzwWumus
stillstehen und umkehren?

In einer ganz anderen Richtung würden diese Städte, wenn der rechte
Geist sie beseelte, ihren materiellen Vortheil suchen, nämlich in einer solchen
mustergiltigen Umgestaltung und Entwickelung ihrer inneren Armenpflege,
daß keine Fluth von außen her einströmender Landstreicher die Macht hätte,
sie auch nur im entferntesten zu erschüttern. Dann könnten am Ende sie es
sein, die zuerst auf den künstlichen Damm der Unterstützungsanspruch-Erwer¬
bungsfrist ganz Verzicht leisteten. Nur unverbesserte Armenpflege hat diese
Schranke überhaupt nöthig. So lange sie aber besteht, zieht sie in Deutsch¬
land ähnliche, wenn auch Gottlob geringere Uebel nach sich, wie in Eng¬
land. Sie vergeudet Transport- und Bureaukosten in der Verwaltung,
Lebensaussichten und Lebensglück in ihren bedauernswürdigen menschlichen
Oojecten. Von Gottes und Rechts wegen sollten daher unter den heuti¬
gen Verkehrs- und Wirthschaftszuständen Ausenthalt und Unterstützungs-
Wohnsitz zusammenfallen. Ihre Auseinanderhaltung ist lediglich eines der
vielen Anzeichen des Zustandes langer Verwahrlosung und Zurückgeblieben¬
heit, in welchem sich unsere Armenpflege befindet. Fährt in diese ein kräftig
verjüngender Hauch, so werden ihre Träger bald aufhören, gegen die unver¬
meidlichen Consequenzen der Zugfreiheit zu eifern.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/460>, abgerufen am 29.06.2024.