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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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und Abends, Winter und Sommer, bei gutem wie bei schlechtem Wetter
eine oder mehrere Stunden nach und von seiner Heimathgemeinde zu gehen,
da nur diese ihm Beschäftigung anweisen wird, überflüssige Arbeit an der
Straße, für einen Lohn gerade hoch genug, um Leib und Seele zusammen¬
zuhalten, und um so peinlicher hinzunehmen, als sie eingestandenermaßen ihm
nur angewiesen wird, damit er sammt seiner Familie nicht im Werkhaus
den Armensteuer-Zahlern auf der Tasche liege. So muß er bitter bereuen,
den Eifer und den Thätigkeitstrieb besessen zu haben, welche ihn ursviünglich
von seinem Kirchspiel forttrieben, um den Seinigen durch Fleiß und An¬
strengung ein befriedigenderes Auskommen zu verschaffen; und wie er zu
und von seinem entlegenen, oft erniedrigenden Tagewerk schleicht, gibt er für
jeden Arbeiter der Umgegend gewissermaßen eine lebende Warnungstafel
gegen die Thorheit ab, seine Lage durch Verlassen des Orts, an welchen das Hei-
mathsgesetz ihn bindet, verbessern zu wollen." Das Gesetz ist also ein Hinder¬
niß der Freizügigkeit nicht sowohl direct als indirect, -- dieses aber im höch¬
sten Grade, indem es den natürlichen und vernünftigen Trieb zu einem Orts¬
wechsel behufs besserer Verwerthung der Arbeitskraft erstickt. Inspector
Revans sagt weiter: "Unter der Herrschaft eines solchen Heimathsrechts wird
die wirthschaftliche Vertheilung der Arbeit völlig verschoben. Man findet
Arbeiter innerhalb eines bestimmten Districts nicht im Verhältniß zu der
Beschäftigungsmenge, welche derselbe darbietet, sondern dem Zufalle der
Geburt gemäß. Oft genug trifft man an dem einen Platze überschüssige
Bevölkerung an, an dem anderen Mangel an Arbeitern, und doch liegen
Beide nur wenige Stunden von einander entfernt. Landwirthe, welche den¬
selben Marktort besuchen, bezahlen mitunter Löhne, deren Verschiedenheit
bis zu SO Procent beträgt. Der Eine von ihnen seufzt unter fast uner-
schwinglich.er Armensteuer; auf dem Anderen ruht nur die Erhaltungspflicht
weniger alter und schwacher Personen." "Unter den Wirkungen des be¬
stehenden Heimathsrechts", so resumirt Inspector Revans seine Beobachtun¬
gen, "gewahre ich noch jedes einzelne der Uebel, die während der großen
Untersuchung von Z833 der damaligen Verwaltungsweise und Organisation
beigemessen wurden. Jene Mißbräuche, die 1834 beseitigt wurden, waren nur
die auffälligste Folge der Krankheit, nicht die Krankheit selbst. Die Krank¬
heit liegt in der Heimathsgesetzgebung, und weit entfernt durch die Reform
von 1834 geheilt zu sein, ist sie seitdem nur schlimmer geworden." Ganz
gleicher oder sehr ähnlicher Meinung sind Pashley, George Coode. Edwin
Chadwick, der Vater der Werkhäuser, Sir George Nicholles, der vormalige
Präsident der Centralarmenbehörde Baines -- kurz fast alle hervorragenden
Schriftsteller und Redner auf diesem Gebiet. Gegenstimmen sind nur höchst
vereinzelt erschollen.*


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und Abends, Winter und Sommer, bei gutem wie bei schlechtem Wetter
eine oder mehrere Stunden nach und von seiner Heimathgemeinde zu gehen,
da nur diese ihm Beschäftigung anweisen wird, überflüssige Arbeit an der
Straße, für einen Lohn gerade hoch genug, um Leib und Seele zusammen¬
zuhalten, und um so peinlicher hinzunehmen, als sie eingestandenermaßen ihm
nur angewiesen wird, damit er sammt seiner Familie nicht im Werkhaus
den Armensteuer-Zahlern auf der Tasche liege. So muß er bitter bereuen,
den Eifer und den Thätigkeitstrieb besessen zu haben, welche ihn ursviünglich
von seinem Kirchspiel forttrieben, um den Seinigen durch Fleiß und An¬
strengung ein befriedigenderes Auskommen zu verschaffen; und wie er zu
und von seinem entlegenen, oft erniedrigenden Tagewerk schleicht, gibt er für
jeden Arbeiter der Umgegend gewissermaßen eine lebende Warnungstafel
gegen die Thorheit ab, seine Lage durch Verlassen des Orts, an welchen das Hei-
mathsgesetz ihn bindet, verbessern zu wollen." Das Gesetz ist also ein Hinder¬
niß der Freizügigkeit nicht sowohl direct als indirect, — dieses aber im höch¬
sten Grade, indem es den natürlichen und vernünftigen Trieb zu einem Orts¬
wechsel behufs besserer Verwerthung der Arbeitskraft erstickt. Inspector
Revans sagt weiter: „Unter der Herrschaft eines solchen Heimathsrechts wird
die wirthschaftliche Vertheilung der Arbeit völlig verschoben. Man findet
Arbeiter innerhalb eines bestimmten Districts nicht im Verhältniß zu der
Beschäftigungsmenge, welche derselbe darbietet, sondern dem Zufalle der
Geburt gemäß. Oft genug trifft man an dem einen Platze überschüssige
Bevölkerung an, an dem anderen Mangel an Arbeitern, und doch liegen
Beide nur wenige Stunden von einander entfernt. Landwirthe, welche den¬
selben Marktort besuchen, bezahlen mitunter Löhne, deren Verschiedenheit
bis zu SO Procent beträgt. Der Eine von ihnen seufzt unter fast uner-
schwinglich.er Armensteuer; auf dem Anderen ruht nur die Erhaltungspflicht
weniger alter und schwacher Personen." „Unter den Wirkungen des be¬
stehenden Heimathsrechts", so resumirt Inspector Revans seine Beobachtun¬
gen, „gewahre ich noch jedes einzelne der Uebel, die während der großen
Untersuchung von Z833 der damaligen Verwaltungsweise und Organisation
beigemessen wurden. Jene Mißbräuche, die 1834 beseitigt wurden, waren nur
die auffälligste Folge der Krankheit, nicht die Krankheit selbst. Die Krank¬
heit liegt in der Heimathsgesetzgebung, und weit entfernt durch die Reform
von 1834 geheilt zu sein, ist sie seitdem nur schlimmer geworden." Ganz
gleicher oder sehr ähnlicher Meinung sind Pashley, George Coode. Edwin
Chadwick, der Vater der Werkhäuser, Sir George Nicholles, der vormalige
Präsident der Centralarmenbehörde Baines — kurz fast alle hervorragenden
Schriftsteller und Redner auf diesem Gebiet. Gegenstimmen sind nur höchst
vereinzelt erschollen.*


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/457>, abgerufen am 29.06.2024.