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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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zwei Stunden später beginnen sollte, den entsprechenden Anzug anzulegen.
Punkt sieben stand ich wieder vor dem Wappenlöwen von Halicz. Obgleich
Flur und Treppe von Männern und Frauen wimmelten, welche die bevor¬
stehende Festlichkeit versammelt hatte und obgleich der undurchdringliche Koth
der dunkeln Gassen -- Gasbeleuchtung ist in Lemberg nur dem Namen nach
bekannt -- die Benutzung von Fuhrwerk mehr wie wünschenswert!) machte,
war nirgend ein Wagen zu sehen. Die "russischen Leute", welche Mitglied¬
schaft und Publicum des Lemberger Casinos bilden, gehören ausnamslos der
mittleren Schichte der Gesellschaft, der Bureaukratie, dem Lehrer- und Priester¬
stande, in einzelnen Exemplaren auch der Krämerschaft an und sind durch¬
gehend mittellos; ihre nationalen Festlichkeiten und ihre patriotischen Unter¬
nehmungen sind nur möglich geworden, weil die ruthenische Bevölkerung
und namentlich die Geistlichkeit sich die Mittel zu denselben im eigentlichsten
Sinnendes Worts vom Munde absparte und Opfer brachte, deren Umfang
auch dem Gegner Anerkennung abnöthigt. Ich glaube nicht, daß mehr wie
zehn der etwa hundertzwanzig festlich geschmückten Besucherinnen der "musikalisch¬
deklamatorischen Soire'e mit Tänzen" seidene Kleider trugen und selbst von diesen
war die Hälfte dunkelfarbig. Unter den Männern waren Frack und Lackstiefel
nur als Ausnahmen vorhanden, -- weitaus die Mehrzahl begnügte sich mit
schlichtem Bratenrock oder langem geistlichem Habit. Dafür sah man ringsum
fröhliche Gesichter, -- Alte und Junge, selbst halbwüchsige Kinder drängten sich
durch einander und die Schuljugend des Narodny-Dom bildete von der Tri-
büne aus einen lärmenden Chorus, welcher jeder der künstlerischen Produktio¬
nen des Abends ebenso begeisterten wie unkritischen Beifall spendete.

Unter den Gästen, welche in der ersten Reihe saßen und mit besonderer
Achtung begrüßt wurden, befanden sich auch mehrere deutsche Beamtenfamilien,
die Neugier oder Abneigung gegen das polnische Element in das ruthenische
Hauptquartier geführt hatten. Sie gruppirten sich meist um den vornehmsten
der Führer des Ruthenenthums, den bekannten Statthaltereirath und Mce-
marschall des Landtags, Herrn Lawrowski, einen klugen Beamten, der sich
noch immer Mühe gibt, zwischen' der gemäßigteren Fraction seiner Landsleute
und den Polen zu vermitteln. Wäre er mir in Petersburg begegnet, ich
hätte den Pan mit den studirt vornehmen, nur allzu beweglichen Manieren
für einen Departementschef und wirklichen Staatsrath, d. h. einen einflu߬
reichen, aber nicht eigentlich "zur Gesellschaft" zählenden Beamten zweiten
Ranges, gehalten -- so unverkennbar war der russisch-büreaukratische Typus
in dem lebhaften klugen Gesicht mit militärisch zugeschnittenen Schnurrbart
ausgebildet. -- Die meisten übrigen Gäste waren Geistliche mit ihren zahl¬
reichen Familien, Lehrer, Subalternbeamte und Studirende der Theologie.

Wohl eine Stunde war vergangen, ehe der Saal sich vollständig gefüllt


zwei Stunden später beginnen sollte, den entsprechenden Anzug anzulegen.
Punkt sieben stand ich wieder vor dem Wappenlöwen von Halicz. Obgleich
Flur und Treppe von Männern und Frauen wimmelten, welche die bevor¬
stehende Festlichkeit versammelt hatte und obgleich der undurchdringliche Koth
der dunkeln Gassen — Gasbeleuchtung ist in Lemberg nur dem Namen nach
bekannt — die Benutzung von Fuhrwerk mehr wie wünschenswert!) machte,
war nirgend ein Wagen zu sehen. Die „russischen Leute", welche Mitglied¬
schaft und Publicum des Lemberger Casinos bilden, gehören ausnamslos der
mittleren Schichte der Gesellschaft, der Bureaukratie, dem Lehrer- und Priester¬
stande, in einzelnen Exemplaren auch der Krämerschaft an und sind durch¬
gehend mittellos; ihre nationalen Festlichkeiten und ihre patriotischen Unter¬
nehmungen sind nur möglich geworden, weil die ruthenische Bevölkerung
und namentlich die Geistlichkeit sich die Mittel zu denselben im eigentlichsten
Sinnendes Worts vom Munde absparte und Opfer brachte, deren Umfang
auch dem Gegner Anerkennung abnöthigt. Ich glaube nicht, daß mehr wie
zehn der etwa hundertzwanzig festlich geschmückten Besucherinnen der „musikalisch¬
deklamatorischen Soire'e mit Tänzen" seidene Kleider trugen und selbst von diesen
war die Hälfte dunkelfarbig. Unter den Männern waren Frack und Lackstiefel
nur als Ausnahmen vorhanden, — weitaus die Mehrzahl begnügte sich mit
schlichtem Bratenrock oder langem geistlichem Habit. Dafür sah man ringsum
fröhliche Gesichter, — Alte und Junge, selbst halbwüchsige Kinder drängten sich
durch einander und die Schuljugend des Narodny-Dom bildete von der Tri-
büne aus einen lärmenden Chorus, welcher jeder der künstlerischen Produktio¬
nen des Abends ebenso begeisterten wie unkritischen Beifall spendete.

Unter den Gästen, welche in der ersten Reihe saßen und mit besonderer
Achtung begrüßt wurden, befanden sich auch mehrere deutsche Beamtenfamilien,
die Neugier oder Abneigung gegen das polnische Element in das ruthenische
Hauptquartier geführt hatten. Sie gruppirten sich meist um den vornehmsten
der Führer des Ruthenenthums, den bekannten Statthaltereirath und Mce-
marschall des Landtags, Herrn Lawrowski, einen klugen Beamten, der sich
noch immer Mühe gibt, zwischen' der gemäßigteren Fraction seiner Landsleute
und den Polen zu vermitteln. Wäre er mir in Petersburg begegnet, ich
hätte den Pan mit den studirt vornehmen, nur allzu beweglichen Manieren
für einen Departementschef und wirklichen Staatsrath, d. h. einen einflu߬
reichen, aber nicht eigentlich „zur Gesellschaft" zählenden Beamten zweiten
Ranges, gehalten — so unverkennbar war der russisch-büreaukratische Typus
in dem lebhaften klugen Gesicht mit militärisch zugeschnittenen Schnurrbart
ausgebildet. — Die meisten übrigen Gäste waren Geistliche mit ihren zahl¬
reichen Familien, Lehrer, Subalternbeamte und Studirende der Theologie.

Wohl eine Stunde war vergangen, ehe der Saal sich vollständig gefüllt


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[0434] zwei Stunden später beginnen sollte, den entsprechenden Anzug anzulegen. Punkt sieben stand ich wieder vor dem Wappenlöwen von Halicz. Obgleich Flur und Treppe von Männern und Frauen wimmelten, welche die bevor¬ stehende Festlichkeit versammelt hatte und obgleich der undurchdringliche Koth der dunkeln Gassen — Gasbeleuchtung ist in Lemberg nur dem Namen nach bekannt — die Benutzung von Fuhrwerk mehr wie wünschenswert!) machte, war nirgend ein Wagen zu sehen. Die „russischen Leute", welche Mitglied¬ schaft und Publicum des Lemberger Casinos bilden, gehören ausnamslos der mittleren Schichte der Gesellschaft, der Bureaukratie, dem Lehrer- und Priester¬ stande, in einzelnen Exemplaren auch der Krämerschaft an und sind durch¬ gehend mittellos; ihre nationalen Festlichkeiten und ihre patriotischen Unter¬ nehmungen sind nur möglich geworden, weil die ruthenische Bevölkerung und namentlich die Geistlichkeit sich die Mittel zu denselben im eigentlichsten Sinnendes Worts vom Munde absparte und Opfer brachte, deren Umfang auch dem Gegner Anerkennung abnöthigt. Ich glaube nicht, daß mehr wie zehn der etwa hundertzwanzig festlich geschmückten Besucherinnen der „musikalisch¬ deklamatorischen Soire'e mit Tänzen" seidene Kleider trugen und selbst von diesen war die Hälfte dunkelfarbig. Unter den Männern waren Frack und Lackstiefel nur als Ausnahmen vorhanden, — weitaus die Mehrzahl begnügte sich mit schlichtem Bratenrock oder langem geistlichem Habit. Dafür sah man ringsum fröhliche Gesichter, — Alte und Junge, selbst halbwüchsige Kinder drängten sich durch einander und die Schuljugend des Narodny-Dom bildete von der Tri- büne aus einen lärmenden Chorus, welcher jeder der künstlerischen Produktio¬ nen des Abends ebenso begeisterten wie unkritischen Beifall spendete. Unter den Gästen, welche in der ersten Reihe saßen und mit besonderer Achtung begrüßt wurden, befanden sich auch mehrere deutsche Beamtenfamilien, die Neugier oder Abneigung gegen das polnische Element in das ruthenische Hauptquartier geführt hatten. Sie gruppirten sich meist um den vornehmsten der Führer des Ruthenenthums, den bekannten Statthaltereirath und Mce- marschall des Landtags, Herrn Lawrowski, einen klugen Beamten, der sich noch immer Mühe gibt, zwischen' der gemäßigteren Fraction seiner Landsleute und den Polen zu vermitteln. Wäre er mir in Petersburg begegnet, ich hätte den Pan mit den studirt vornehmen, nur allzu beweglichen Manieren für einen Departementschef und wirklichen Staatsrath, d. h. einen einflu߬ reichen, aber nicht eigentlich „zur Gesellschaft" zählenden Beamten zweiten Ranges, gehalten — so unverkennbar war der russisch-büreaukratische Typus in dem lebhaften klugen Gesicht mit militärisch zugeschnittenen Schnurrbart ausgebildet. — Die meisten übrigen Gäste waren Geistliche mit ihren zahl¬ reichen Familien, Lehrer, Subalternbeamte und Studirende der Theologie. Wohl eine Stunde war vergangen, ehe der Saal sich vollständig gefüllt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/434>, abgerufen am 29.06.2024.