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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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und dieses plötzlichen Stillstandes traf die Nation in einer neuen politischen
Gliederung. Nur an wenigen Stellen waren die Factoren politischen Lebens
in derselben Verbindung geblieben, in der sie sich seit Jahrhunderten ausge¬
bildet hatten, wie z. B. in Alt-Würtemberg. Fast überall sonst traten solche,
die seit Jahrhunderten ein gesondertes Dasein geführt, in neue Verhältnisse,
unter die Wirkung neuer Einflüsse, die Kräfte einer zum Theil Jahrhunderte
hindurch festgebannten Aristokratie, eines politisch fast versteinerten Bürger-
thums begannen allmälig in noch unklaren Kämpfen, zum Theil nach den
Vorstellungen und im Stil fremder oder rein abstracter Theorien, ihre Kräfte
zu messen. Nach einer militärischen Erhebung ohne Gleichen fand sich die
Nation, ohne es zu fühlen, auf den untersten Stufen einer schweren politischen
Bildungsperiode.

Es ist hier nicht der Ort, näher in die Geschichte der folgenden Jahr¬
zehnte einzugehen. Was Preußen betrifft, so hat die neuere historische For¬
schung zum Theil nachgewiesen, daß seine Regierung unter der furchtbaren
Ungunst der Verhältnisse mit Umsicht und Ausdauer das Gute zu erringen
und unseligen Einflüssen entgegenzutreten suchte. Man erzählt sich heute das
Wort unseres größten Staatsmannes, "Preußen könne bei einer wirklichen
urkundlichen Geschichte dieser Zeit nur in der öffentlichen Meinung gewin¬
nen." Die öffentliche Meinung freilich hat sich seit einem halben Jahrhun¬
dert gewöhnt, vor Allen Preußen für die Mißgriffe und Gewaltthaten ver¬
antwortlich zu machen, welche in den nächsten Jahrzehnten nach 1815 unser
so junges politisches Leben noch mehr verwirrten und vergifteten.

Es ist bekannt, daß Arndt von diesen Maßregeln selbst in einer Weise
getroffen wird, die bei einem so entschiedenen und begeisterten Vorkämpfer
preußischer Politik in desto grellerem Lichte erscheinen mußte.

Die zweite Hälfte seines Lebens war reich an schweren Erfahrungen.

In die langjährige Suspension seiner academischen Thätigkeit fiel der
Tod seines Lieblingsohns, der im Rhein ertrank. Man sah den Vater am
Ufer knien und mit erhobenen Händen um die Rettung seines Kindes beten.
Er hat den Schmerz dieses Schlags nie überwunden. Dann hat er ja ein¬
sam auf der Coblenzer Straße der Leiche seines großen Freiherrn v. Stein
das Geleit gegeben, mit dem er in diesen Jahren sich über Deutschlands so
wunderbare und so trostlose Geschicke aussprechen konnte wie mit keinem an¬
deren. Die Erschütterung des Jahres 1848 führte ihn mitten in die Be¬
wegung und die Verhandlungen des Frankfurter Parlaments. Unter der
lauten Mißbilligung der Linken und der Tribune gab er seine Stimme für
den Ausschluß Oestreichs ab und ging als Mitglied der Kaiserdeputation
nach Berlin, um von dort, um eine neue große Enttäuschung reicher, heim¬
zukehren.


und dieses plötzlichen Stillstandes traf die Nation in einer neuen politischen
Gliederung. Nur an wenigen Stellen waren die Factoren politischen Lebens
in derselben Verbindung geblieben, in der sie sich seit Jahrhunderten ausge¬
bildet hatten, wie z. B. in Alt-Würtemberg. Fast überall sonst traten solche,
die seit Jahrhunderten ein gesondertes Dasein geführt, in neue Verhältnisse,
unter die Wirkung neuer Einflüsse, die Kräfte einer zum Theil Jahrhunderte
hindurch festgebannten Aristokratie, eines politisch fast versteinerten Bürger-
thums begannen allmälig in noch unklaren Kämpfen, zum Theil nach den
Vorstellungen und im Stil fremder oder rein abstracter Theorien, ihre Kräfte
zu messen. Nach einer militärischen Erhebung ohne Gleichen fand sich die
Nation, ohne es zu fühlen, auf den untersten Stufen einer schweren politischen
Bildungsperiode.

Es ist hier nicht der Ort, näher in die Geschichte der folgenden Jahr¬
zehnte einzugehen. Was Preußen betrifft, so hat die neuere historische For¬
schung zum Theil nachgewiesen, daß seine Regierung unter der furchtbaren
Ungunst der Verhältnisse mit Umsicht und Ausdauer das Gute zu erringen
und unseligen Einflüssen entgegenzutreten suchte. Man erzählt sich heute das
Wort unseres größten Staatsmannes, „Preußen könne bei einer wirklichen
urkundlichen Geschichte dieser Zeit nur in der öffentlichen Meinung gewin¬
nen." Die öffentliche Meinung freilich hat sich seit einem halben Jahrhun¬
dert gewöhnt, vor Allen Preußen für die Mißgriffe und Gewaltthaten ver¬
antwortlich zu machen, welche in den nächsten Jahrzehnten nach 1815 unser
so junges politisches Leben noch mehr verwirrten und vergifteten.

Es ist bekannt, daß Arndt von diesen Maßregeln selbst in einer Weise
getroffen wird, die bei einem so entschiedenen und begeisterten Vorkämpfer
preußischer Politik in desto grellerem Lichte erscheinen mußte.

Die zweite Hälfte seines Lebens war reich an schweren Erfahrungen.

In die langjährige Suspension seiner academischen Thätigkeit fiel der
Tod seines Lieblingsohns, der im Rhein ertrank. Man sah den Vater am
Ufer knien und mit erhobenen Händen um die Rettung seines Kindes beten.
Er hat den Schmerz dieses Schlags nie überwunden. Dann hat er ja ein¬
sam auf der Coblenzer Straße der Leiche seines großen Freiherrn v. Stein
das Geleit gegeben, mit dem er in diesen Jahren sich über Deutschlands so
wunderbare und so trostlose Geschicke aussprechen konnte wie mit keinem an¬
deren. Die Erschütterung des Jahres 1848 führte ihn mitten in die Be¬
wegung und die Verhandlungen des Frankfurter Parlaments. Unter der
lauten Mißbilligung der Linken und der Tribune gab er seine Stimme für
den Ausschluß Oestreichs ab und ging als Mitglied der Kaiserdeputation
nach Berlin, um von dort, um eine neue große Enttäuschung reicher, heim¬
zukehren.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/376>, abgerufen am 28.09.2024.