Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Vielen gar klug und dünkte sich selbst so, bis sie endlich des langen Wah¬
nes inne geworden und nun endlich wirklich wahnwitzig'sich selbst zu ent¬
laufen sucht. -- Welch ein Gefühl, das doch noch das Leben erträgt, daß
man Nichts geworden ist und Nichts kann. Dies ist das Gefühl der Zeit,
es ist das Gefühl der Besseren, die jetzt leben, es ist das meine. Unthätig
stehen wir still in dem Jammer und werden allmälig dem Niobidischen Stein
gleich oder wie die, welche das Medusenhaupt gesehen hatten."

Eine Reihe von Betrachtungen in diesem Sinne über den Charakter
der verschiedenen Sphären der damaligen Bildung, der verschiedenen geistigen
Thätigkeiten und der verschiedenen Nationen bildet den Hauptinhalt des
wunderbaren, wild und heiß bewegten Buchs. Mit Unrecht hat man als
seinen Hauptinhalt und Zweck die Schilderung des Napoleonismus bezeichnet.
Die Vergeistigung des ganzen Lebens, die maßlose Selbstzufriedenheit einer
in sich kranken Cultur, die Schnelligkeit in Gedanken, Anschauungen und
Plänen, die Verflüchtigung aller realen Grundlagen sittlichen Daseins werden
als die Züge allgemeiner Auflösung geschildert. Erst darnach geht der Ver¬
fasser zu der Betrachtung der entsetzlichen Verwüstung über, für welche eine
unwiderstehliche, vom Schicksal losgelassene Macht so Raum und offenes
Feld gefunden habe.

"Aber", ruft er dann am Schlüsse im Hinblick auf Napoleon's Siege
aus, "weil diese Arbeiter auf Erden frisch sind, unwissend, was sie thun,
laßt uns in unserem Himmel nicht faul sein, wissend, was wir thun sollen."

"Aus diesem vollen Nichts, was jetzt ist, kann Nichts werden, wer darin
still steht, kommt um, wer darin leben kann, ist ein Sünder oder ein Thor.
Der unendliche Geist ist wach, nie hatte er diese Höhen erflogen."

"Aber hat die Arbeit der Vernichtung gefördert, er ist auch fertig.
Bringt ihn aus dem Himmel herab und zeigt ihn in ganzer Glorie den
Menschen."

Es wird uns doch schwer, heute den Charakter dieser deutschen Phi-
lippina zusammenzufassen. Statt jener stahlharten Geschliffenheit und Schärfe,
welche die Redner und Pamfletisten politischer Völker in der Schule großer Par¬
teien und großer Debatten gewinnen, eine Mischung von kalter Beobachtung
und unklarer Erbitterung, von überspannter Rhetorik und sittlicher Tiefe,
wie sie sich sonst selten finden wird.'

Die Schilderung der einzelnen Nationen, vor allender deutschen selbst
ganz in Schlözer's und Spittler's Manier, die der eigenen Zeit wie aus
Schiller's frühesten Zeiten, voll der Leidenschaftlichkeit der Sturm- und
Drangperiode, zuletzt eine ekstatische Wendung zu den letzten und höchsten
Gewalten.

Wie das Ganze ebenso die Eindrücke ganz verschiedener Richtungen


Vielen gar klug und dünkte sich selbst so, bis sie endlich des langen Wah¬
nes inne geworden und nun endlich wirklich wahnwitzig'sich selbst zu ent¬
laufen sucht. — Welch ein Gefühl, das doch noch das Leben erträgt, daß
man Nichts geworden ist und Nichts kann. Dies ist das Gefühl der Zeit,
es ist das Gefühl der Besseren, die jetzt leben, es ist das meine. Unthätig
stehen wir still in dem Jammer und werden allmälig dem Niobidischen Stein
gleich oder wie die, welche das Medusenhaupt gesehen hatten."

Eine Reihe von Betrachtungen in diesem Sinne über den Charakter
der verschiedenen Sphären der damaligen Bildung, der verschiedenen geistigen
Thätigkeiten und der verschiedenen Nationen bildet den Hauptinhalt des
wunderbaren, wild und heiß bewegten Buchs. Mit Unrecht hat man als
seinen Hauptinhalt und Zweck die Schilderung des Napoleonismus bezeichnet.
Die Vergeistigung des ganzen Lebens, die maßlose Selbstzufriedenheit einer
in sich kranken Cultur, die Schnelligkeit in Gedanken, Anschauungen und
Plänen, die Verflüchtigung aller realen Grundlagen sittlichen Daseins werden
als die Züge allgemeiner Auflösung geschildert. Erst darnach geht der Ver¬
fasser zu der Betrachtung der entsetzlichen Verwüstung über, für welche eine
unwiderstehliche, vom Schicksal losgelassene Macht so Raum und offenes
Feld gefunden habe.

„Aber", ruft er dann am Schlüsse im Hinblick auf Napoleon's Siege
aus, „weil diese Arbeiter auf Erden frisch sind, unwissend, was sie thun,
laßt uns in unserem Himmel nicht faul sein, wissend, was wir thun sollen."

„Aus diesem vollen Nichts, was jetzt ist, kann Nichts werden, wer darin
still steht, kommt um, wer darin leben kann, ist ein Sünder oder ein Thor.
Der unendliche Geist ist wach, nie hatte er diese Höhen erflogen."

„Aber hat die Arbeit der Vernichtung gefördert, er ist auch fertig.
Bringt ihn aus dem Himmel herab und zeigt ihn in ganzer Glorie den
Menschen."

Es wird uns doch schwer, heute den Charakter dieser deutschen Phi-
lippina zusammenzufassen. Statt jener stahlharten Geschliffenheit und Schärfe,
welche die Redner und Pamfletisten politischer Völker in der Schule großer Par¬
teien und großer Debatten gewinnen, eine Mischung von kalter Beobachtung
und unklarer Erbitterung, von überspannter Rhetorik und sittlicher Tiefe,
wie sie sich sonst selten finden wird.'

Die Schilderung der einzelnen Nationen, vor allender deutschen selbst
ganz in Schlözer's und Spittler's Manier, die der eigenen Zeit wie aus
Schiller's frühesten Zeiten, voll der Leidenschaftlichkeit der Sturm- und
Drangperiode, zuletzt eine ekstatische Wendung zu den letzten und höchsten
Gewalten.

Wie das Ganze ebenso die Eindrücke ganz verschiedener Richtungen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0371" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123459"/>
          <p xml:id="ID_1032" prev="#ID_1031"> Vielen gar klug und dünkte sich selbst so, bis sie endlich des langen Wah¬<lb/>
nes inne geworden und nun endlich wirklich wahnwitzig'sich selbst zu ent¬<lb/>
laufen sucht. &#x2014; Welch ein Gefühl, das doch noch das Leben erträgt, daß<lb/>
man Nichts geworden ist und Nichts kann. Dies ist das Gefühl der Zeit,<lb/>
es ist das Gefühl der Besseren, die jetzt leben, es ist das meine. Unthätig<lb/>
stehen wir still in dem Jammer und werden allmälig dem Niobidischen Stein<lb/>
gleich oder wie die, welche das Medusenhaupt gesehen hatten."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1033"> Eine Reihe von Betrachtungen in diesem Sinne über den Charakter<lb/>
der verschiedenen Sphären der damaligen Bildung, der verschiedenen geistigen<lb/>
Thätigkeiten und der verschiedenen Nationen bildet den Hauptinhalt des<lb/>
wunderbaren, wild und heiß bewegten Buchs. Mit Unrecht hat man als<lb/>
seinen Hauptinhalt und Zweck die Schilderung des Napoleonismus bezeichnet.<lb/>
Die Vergeistigung des ganzen Lebens, die maßlose Selbstzufriedenheit einer<lb/>
in sich kranken Cultur, die Schnelligkeit in Gedanken, Anschauungen und<lb/>
Plänen, die Verflüchtigung aller realen Grundlagen sittlichen Daseins werden<lb/>
als die Züge allgemeiner Auflösung geschildert. Erst darnach geht der Ver¬<lb/>
fasser zu der Betrachtung der entsetzlichen Verwüstung über, für welche eine<lb/>
unwiderstehliche, vom Schicksal losgelassene Macht so Raum und offenes<lb/>
Feld gefunden habe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1034"> &#x201E;Aber", ruft er dann am Schlüsse im Hinblick auf Napoleon's Siege<lb/>
aus, &#x201E;weil diese Arbeiter auf Erden frisch sind, unwissend, was sie thun,<lb/>
laßt uns in unserem Himmel nicht faul sein, wissend, was wir thun sollen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1035"> &#x201E;Aus diesem vollen Nichts, was jetzt ist, kann Nichts werden, wer darin<lb/>
still steht, kommt um, wer darin leben kann, ist ein Sünder oder ein Thor.<lb/>
Der unendliche Geist ist wach, nie hatte er diese Höhen erflogen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1036"> &#x201E;Aber hat die Arbeit der Vernichtung gefördert, er ist auch fertig.<lb/>
Bringt ihn aus dem Himmel herab und zeigt ihn in ganzer Glorie den<lb/>
Menschen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1037"> Es wird uns doch schwer, heute den Charakter dieser deutschen Phi-<lb/>
lippina zusammenzufassen. Statt jener stahlharten Geschliffenheit und Schärfe,<lb/>
welche die Redner und Pamfletisten politischer Völker in der Schule großer Par¬<lb/>
teien und großer Debatten gewinnen, eine Mischung von kalter Beobachtung<lb/>
und unklarer Erbitterung, von überspannter Rhetorik und sittlicher Tiefe,<lb/>
wie sie sich sonst selten finden wird.'</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1038"> Die Schilderung der einzelnen Nationen, vor allender deutschen selbst<lb/>
ganz in Schlözer's und Spittler's Manier, die der eigenen Zeit wie aus<lb/>
Schiller's frühesten Zeiten, voll der Leidenschaftlichkeit der Sturm- und<lb/>
Drangperiode, zuletzt eine ekstatische Wendung zu den letzten und höchsten<lb/>
Gewalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1039" next="#ID_1040"> Wie das Ganze ebenso die Eindrücke ganz verschiedener Richtungen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0371] Vielen gar klug und dünkte sich selbst so, bis sie endlich des langen Wah¬ nes inne geworden und nun endlich wirklich wahnwitzig'sich selbst zu ent¬ laufen sucht. — Welch ein Gefühl, das doch noch das Leben erträgt, daß man Nichts geworden ist und Nichts kann. Dies ist das Gefühl der Zeit, es ist das Gefühl der Besseren, die jetzt leben, es ist das meine. Unthätig stehen wir still in dem Jammer und werden allmälig dem Niobidischen Stein gleich oder wie die, welche das Medusenhaupt gesehen hatten." Eine Reihe von Betrachtungen in diesem Sinne über den Charakter der verschiedenen Sphären der damaligen Bildung, der verschiedenen geistigen Thätigkeiten und der verschiedenen Nationen bildet den Hauptinhalt des wunderbaren, wild und heiß bewegten Buchs. Mit Unrecht hat man als seinen Hauptinhalt und Zweck die Schilderung des Napoleonismus bezeichnet. Die Vergeistigung des ganzen Lebens, die maßlose Selbstzufriedenheit einer in sich kranken Cultur, die Schnelligkeit in Gedanken, Anschauungen und Plänen, die Verflüchtigung aller realen Grundlagen sittlichen Daseins werden als die Züge allgemeiner Auflösung geschildert. Erst darnach geht der Ver¬ fasser zu der Betrachtung der entsetzlichen Verwüstung über, für welche eine unwiderstehliche, vom Schicksal losgelassene Macht so Raum und offenes Feld gefunden habe. „Aber", ruft er dann am Schlüsse im Hinblick auf Napoleon's Siege aus, „weil diese Arbeiter auf Erden frisch sind, unwissend, was sie thun, laßt uns in unserem Himmel nicht faul sein, wissend, was wir thun sollen." „Aus diesem vollen Nichts, was jetzt ist, kann Nichts werden, wer darin still steht, kommt um, wer darin leben kann, ist ein Sünder oder ein Thor. Der unendliche Geist ist wach, nie hatte er diese Höhen erflogen." „Aber hat die Arbeit der Vernichtung gefördert, er ist auch fertig. Bringt ihn aus dem Himmel herab und zeigt ihn in ganzer Glorie den Menschen." Es wird uns doch schwer, heute den Charakter dieser deutschen Phi- lippina zusammenzufassen. Statt jener stahlharten Geschliffenheit und Schärfe, welche die Redner und Pamfletisten politischer Völker in der Schule großer Par¬ teien und großer Debatten gewinnen, eine Mischung von kalter Beobachtung und unklarer Erbitterung, von überspannter Rhetorik und sittlicher Tiefe, wie sie sich sonst selten finden wird.' Die Schilderung der einzelnen Nationen, vor allender deutschen selbst ganz in Schlözer's und Spittler's Manier, die der eigenen Zeit wie aus Schiller's frühesten Zeiten, voll der Leidenschaftlichkeit der Sturm- und Drangperiode, zuletzt eine ekstatische Wendung zu den letzten und höchsten Gewalten. Wie das Ganze ebenso die Eindrücke ganz verschiedener Richtungen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/371
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/371>, abgerufen am 29.06.2024.