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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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1803, 1806 und 7. durch eine solche Atmosphäre gesehen, hat noch heute eine
schreckhafte Ähnlichkeit mit den Tagen von Charonea und Philippi.

Unter den Thaten deutschen Geistes, welche den Wendepunkt in diesem
glänzenden und doch so unheimlichen Entwickelungsstadium unserer Nation
bezeichnen,, stehen Fichte's "Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" und
"Reden an die deutsche Nation", neben ihnen "Arndt's Geist der Zeit" noch
jetzt in dem Vordergrund jeder Betrachtung.

Die einfache historische Würdigung rechtet nicht, wie die methodische
Philosophie, über die Inconsequenz seiner Entwickelung mit dem großen
Jdealphilosophen, sie sieht in jenen Werken eine der größten geistigen Thaten
zur Rettung unserer nationalen Lebenskraft.

Die unwiderstehliche Macht sittlicher Entrüstung und Erhebung hat in
ihnen einen so einfachen, so nackten und so erhabenen Ausdruck gefunden,
daß man nur mit ihren eigenen Worten diesen neugeborenen "deutschen Geist"
als den Adler bezeichnen mag, "der mit starkem Fittig viel Luft unter sich
bringt, sich näher zu heben der Sonne, deren Anschauen ihn entzückt."

Arndt's "Geist der Zeit" reicht unzweifelhaft an die classische Größe
dieser Werke nicht hinan. Er steht ihr an einfacher Macht der Rede un¬
endlich nach. Wie in einem wüsten Wogenschwall stürzen uns darin die
unruhigen und leidenschaftlichen Anschauungen und Gefühle des Verfassers
entgegen.

Die Schilderung der früheren Geschichte Deutschlands und unseres Na¬
tionalcharakters ist mit einer nüchternen Unbefangenheit geschrieben, wie sie
noch jetzt selten sich findet. Von jener übertriebenen Auffassung dieser Dinge,
wie man sie oft ihm vorgeworfen, keine Spur. Auf das nächst vergangene
Jahrhundert schaut er fast ebenso wie Goethe in Wahrheit und Dichtung
zurück. "Es war eine schöne Zeit deutscher Nation", sagt er davon, "sie
stand nicht vollkommen, aber sie schien im frischen und freien Streben" und
an einer anderen Stelle "das 18 te Jahrhundert baute rastlos fort auf den
großen Vorarbeiten der Väter und brachte die Kenntniß der Europäer zu einer
Weite, welche sie über die Unermeßlichkeit des Blicks mehr als einmal in
Erstaunen setzte."

Seit dem Tode Friedrichs II., seit dem Ende seiner Knabenzeit datirt
er die furchtbare Veränderung, welche für ihn in den Zügen des Zeitalters,
in dem Eindruck seiner Bewegung und Haltung vorgegangen sei,

"Friedrich starb", heißt es, "ich ward ein Jüngling. Die Zeit, die jung
zu sein schien, da ich ein Knabe war, war nun einem kindischen Greise gleich
geworden. Sie schien von dem Alten nur einzelne Töne festzuhalten als Er¬
innerung einer schönen Vergangenheit, aber auf dem Gegenwärtigen saß sie
frierend und jämmerlich wie der Geizhals auf dem Goldhaufen. Doch schien sie


1803, 1806 und 7. durch eine solche Atmosphäre gesehen, hat noch heute eine
schreckhafte Ähnlichkeit mit den Tagen von Charonea und Philippi.

Unter den Thaten deutschen Geistes, welche den Wendepunkt in diesem
glänzenden und doch so unheimlichen Entwickelungsstadium unserer Nation
bezeichnen,, stehen Fichte's „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" und
„Reden an die deutsche Nation", neben ihnen „Arndt's Geist der Zeit" noch
jetzt in dem Vordergrund jeder Betrachtung.

Die einfache historische Würdigung rechtet nicht, wie die methodische
Philosophie, über die Inconsequenz seiner Entwickelung mit dem großen
Jdealphilosophen, sie sieht in jenen Werken eine der größten geistigen Thaten
zur Rettung unserer nationalen Lebenskraft.

Die unwiderstehliche Macht sittlicher Entrüstung und Erhebung hat in
ihnen einen so einfachen, so nackten und so erhabenen Ausdruck gefunden,
daß man nur mit ihren eigenen Worten diesen neugeborenen „deutschen Geist"
als den Adler bezeichnen mag, „der mit starkem Fittig viel Luft unter sich
bringt, sich näher zu heben der Sonne, deren Anschauen ihn entzückt."

Arndt's „Geist der Zeit" reicht unzweifelhaft an die classische Größe
dieser Werke nicht hinan. Er steht ihr an einfacher Macht der Rede un¬
endlich nach. Wie in einem wüsten Wogenschwall stürzen uns darin die
unruhigen und leidenschaftlichen Anschauungen und Gefühle des Verfassers
entgegen.

Die Schilderung der früheren Geschichte Deutschlands und unseres Na¬
tionalcharakters ist mit einer nüchternen Unbefangenheit geschrieben, wie sie
noch jetzt selten sich findet. Von jener übertriebenen Auffassung dieser Dinge,
wie man sie oft ihm vorgeworfen, keine Spur. Auf das nächst vergangene
Jahrhundert schaut er fast ebenso wie Goethe in Wahrheit und Dichtung
zurück. „Es war eine schöne Zeit deutscher Nation", sagt er davon, „sie
stand nicht vollkommen, aber sie schien im frischen und freien Streben" und
an einer anderen Stelle „das 18 te Jahrhundert baute rastlos fort auf den
großen Vorarbeiten der Väter und brachte die Kenntniß der Europäer zu einer
Weite, welche sie über die Unermeßlichkeit des Blicks mehr als einmal in
Erstaunen setzte."

Seit dem Tode Friedrichs II., seit dem Ende seiner Knabenzeit datirt
er die furchtbare Veränderung, welche für ihn in den Zügen des Zeitalters,
in dem Eindruck seiner Bewegung und Haltung vorgegangen sei,

„Friedrich starb", heißt es, „ich ward ein Jüngling. Die Zeit, die jung
zu sein schien, da ich ein Knabe war, war nun einem kindischen Greise gleich
geworden. Sie schien von dem Alten nur einzelne Töne festzuhalten als Er¬
innerung einer schönen Vergangenheit, aber auf dem Gegenwärtigen saß sie
frierend und jämmerlich wie der Geizhals auf dem Goldhaufen. Doch schien sie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/370>, abgerufen am 29.06.2024.