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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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leichte Luft, das frohe Behagen derselben mit unvergänglichen Zauber noch
heute an. Noch, da Frau von Stael mitten in der Napoleonischen Schreckens¬
herrschaft ihr seltsames Buch über Deutschland schrieb, muthete sie unsere
Heimath an, wie ein Gebiet voll eines reinen, unendlich frischen, geistigen
Lebens, unberührt von den Reizen und dem Verderben der französischen Cultur.

Was diese ganze Entwickelung war, das hat sich uns in Goethe's
göttergleichen, olympisch sicherem und heiterem Dasein bis an das Ende
seiner vollausgelebten Tage offenbart. Dieser wunderbare Bau einer Dichter¬
und Menschennatur ohne Gleichen hatte seine Kräfte aus jenem glücklichen
und überreichen Boden gezogen, hatte sich in der Atmosphäre gesättigt, die
aus ihm sich bildete und ihn befruchtete.

Aber neben dieser geistigen Entwickelung ging eine andere her. Eben
damals nahm die Verstimmung über die thatsächlichen Verhältnisse unserer
Verfassung immer mehr überHand. Eine zum Theil harmlos humoristische,
zum Theil ärgerlich bittere, zum Theil endlich emphatische Kritik warf sich
auf die Einzelheiten und den Zusammenhang der Reichsverfassung. Dem ent¬
sprach auf der anderen Seite die ebenso maßlos steigende Bewunderung für
die neuen Erscheinungen des politischen Lebens. Nach einander wurden der
große König Preußens, die große Kaiserin Rußlands, die Menschenrechte der
Nordamerikaner, die Reformen Josephs und die Katastrophen und Schöpfun¬
gen der französischen Revolution angestaunt. Ich brauche nicht zu erklären,
daß ich die Berechtigung dieser Regungen nicht übersehe. Als Deutschland
eigenthümlich scheint mir hier nur dies hervorzuheben, daß in dieser ganzen
geistigen Bewegung bei einer so reichen literärischen Entwickelung es nicht
zu jenen durchschlagenden und unwiderstehlichen Kundgebungen politischen Ge¬
fühls kam, wie sie z. B. in den lettres?<zr8g,unes oder Junius Briefen einen
Ausdruck gefunden. Ist in den zahlreichen Bänden von Schlözer's Brief¬
wechsel, ist selbst in Moser's "Herr und Diener" nur eine Spur solcher genialen
und productiven Kritik? In diesem Sinne ist Goethe's Bemerkung, es habe
in jener Zeit der deutschen Literatur an patriotischem Stoff gefehlt, ein schla¬
gender Beleg für die wunderliche Stimmung jener Tage.

So gewannen gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts unsere geisti¬
gen Zustände eine immer steigende Aehnlichkeit mit denen des späteren
Griechenlands. Ja man möchte den Ausspruch wagen, daß eben auf dieser
Verwandtschaft beider Perioden zum Theil das klare Verständniß beruhte, das
die größten und edelsten Geister der Nation für das Hellenenthum bethätigten.

Es war wie in den letzten Tagen der römischen Republik, als die römi¬
sch? Literatur sich zuerst mit vollem Verständniß den großen Vorbildern des
untergegangenen Hellas zuwandte und in einer politischen Auflösung ohne
Gleichen die Blüthe der Cäsarenliteratur heranreifte. Die Katastrophe von


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leichte Luft, das frohe Behagen derselben mit unvergänglichen Zauber noch
heute an. Noch, da Frau von Stael mitten in der Napoleonischen Schreckens¬
herrschaft ihr seltsames Buch über Deutschland schrieb, muthete sie unsere
Heimath an, wie ein Gebiet voll eines reinen, unendlich frischen, geistigen
Lebens, unberührt von den Reizen und dem Verderben der französischen Cultur.

Was diese ganze Entwickelung war, das hat sich uns in Goethe's
göttergleichen, olympisch sicherem und heiterem Dasein bis an das Ende
seiner vollausgelebten Tage offenbart. Dieser wunderbare Bau einer Dichter¬
und Menschennatur ohne Gleichen hatte seine Kräfte aus jenem glücklichen
und überreichen Boden gezogen, hatte sich in der Atmosphäre gesättigt, die
aus ihm sich bildete und ihn befruchtete.

Aber neben dieser geistigen Entwickelung ging eine andere her. Eben
damals nahm die Verstimmung über die thatsächlichen Verhältnisse unserer
Verfassung immer mehr überHand. Eine zum Theil harmlos humoristische,
zum Theil ärgerlich bittere, zum Theil endlich emphatische Kritik warf sich
auf die Einzelheiten und den Zusammenhang der Reichsverfassung. Dem ent¬
sprach auf der anderen Seite die ebenso maßlos steigende Bewunderung für
die neuen Erscheinungen des politischen Lebens. Nach einander wurden der
große König Preußens, die große Kaiserin Rußlands, die Menschenrechte der
Nordamerikaner, die Reformen Josephs und die Katastrophen und Schöpfun¬
gen der französischen Revolution angestaunt. Ich brauche nicht zu erklären,
daß ich die Berechtigung dieser Regungen nicht übersehe. Als Deutschland
eigenthümlich scheint mir hier nur dies hervorzuheben, daß in dieser ganzen
geistigen Bewegung bei einer so reichen literärischen Entwickelung es nicht
zu jenen durchschlagenden und unwiderstehlichen Kundgebungen politischen Ge¬
fühls kam, wie sie z. B. in den lettres?<zr8g,unes oder Junius Briefen einen
Ausdruck gefunden. Ist in den zahlreichen Bänden von Schlözer's Brief¬
wechsel, ist selbst in Moser's „Herr und Diener" nur eine Spur solcher genialen
und productiven Kritik? In diesem Sinne ist Goethe's Bemerkung, es habe
in jener Zeit der deutschen Literatur an patriotischem Stoff gefehlt, ein schla¬
gender Beleg für die wunderliche Stimmung jener Tage.

So gewannen gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts unsere geisti¬
gen Zustände eine immer steigende Aehnlichkeit mit denen des späteren
Griechenlands. Ja man möchte den Ausspruch wagen, daß eben auf dieser
Verwandtschaft beider Perioden zum Theil das klare Verständniß beruhte, das
die größten und edelsten Geister der Nation für das Hellenenthum bethätigten.

Es war wie in den letzten Tagen der römischen Republik, als die römi¬
sch? Literatur sich zuerst mit vollem Verständniß den großen Vorbildern des
untergegangenen Hellas zuwandte und in einer politischen Auflösung ohne
Gleichen die Blüthe der Cäsarenliteratur heranreifte. Die Katastrophe von


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[0369] leichte Luft, das frohe Behagen derselben mit unvergänglichen Zauber noch heute an. Noch, da Frau von Stael mitten in der Napoleonischen Schreckens¬ herrschaft ihr seltsames Buch über Deutschland schrieb, muthete sie unsere Heimath an, wie ein Gebiet voll eines reinen, unendlich frischen, geistigen Lebens, unberührt von den Reizen und dem Verderben der französischen Cultur. Was diese ganze Entwickelung war, das hat sich uns in Goethe's göttergleichen, olympisch sicherem und heiterem Dasein bis an das Ende seiner vollausgelebten Tage offenbart. Dieser wunderbare Bau einer Dichter¬ und Menschennatur ohne Gleichen hatte seine Kräfte aus jenem glücklichen und überreichen Boden gezogen, hatte sich in der Atmosphäre gesättigt, die aus ihm sich bildete und ihn befruchtete. Aber neben dieser geistigen Entwickelung ging eine andere her. Eben damals nahm die Verstimmung über die thatsächlichen Verhältnisse unserer Verfassung immer mehr überHand. Eine zum Theil harmlos humoristische, zum Theil ärgerlich bittere, zum Theil endlich emphatische Kritik warf sich auf die Einzelheiten und den Zusammenhang der Reichsverfassung. Dem ent¬ sprach auf der anderen Seite die ebenso maßlos steigende Bewunderung für die neuen Erscheinungen des politischen Lebens. Nach einander wurden der große König Preußens, die große Kaiserin Rußlands, die Menschenrechte der Nordamerikaner, die Reformen Josephs und die Katastrophen und Schöpfun¬ gen der französischen Revolution angestaunt. Ich brauche nicht zu erklären, daß ich die Berechtigung dieser Regungen nicht übersehe. Als Deutschland eigenthümlich scheint mir hier nur dies hervorzuheben, daß in dieser ganzen geistigen Bewegung bei einer so reichen literärischen Entwickelung es nicht zu jenen durchschlagenden und unwiderstehlichen Kundgebungen politischen Ge¬ fühls kam, wie sie z. B. in den lettres?<zr8g,unes oder Junius Briefen einen Ausdruck gefunden. Ist in den zahlreichen Bänden von Schlözer's Brief¬ wechsel, ist selbst in Moser's „Herr und Diener" nur eine Spur solcher genialen und productiven Kritik? In diesem Sinne ist Goethe's Bemerkung, es habe in jener Zeit der deutschen Literatur an patriotischem Stoff gefehlt, ein schla¬ gender Beleg für die wunderliche Stimmung jener Tage. So gewannen gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts unsere geisti¬ gen Zustände eine immer steigende Aehnlichkeit mit denen des späteren Griechenlands. Ja man möchte den Ausspruch wagen, daß eben auf dieser Verwandtschaft beider Perioden zum Theil das klare Verständniß beruhte, das die größten und edelsten Geister der Nation für das Hellenenthum bethätigten. Es war wie in den letzten Tagen der römischen Republik, als die römi¬ sch? Literatur sich zuerst mit vollem Verständniß den großen Vorbildern des untergegangenen Hellas zuwandte und in einer politischen Auflösung ohne Gleichen die Blüthe der Cäsarenliteratur heranreifte. Die Katastrophe von 46*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/369>, abgerufen am 28.09.2024.