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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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diese ist in der That die wichtigere. In der Hauptsache handelt eS sich um
drei verschiedene Systeme der Entschädigung abziehender Pächter für gemachte
Aufwendungen und entmißte Pachtjahre; die Sätze für dieselben sind höher
gegriffen, als in dem bekannten schottischen Pachtgesetz. Bestimmte Pacht-
Perioden schreibt der Gesetzentwurf nicht vor; dafür wird die Verpachtung
auf 31 Jahre so sichtlich bevorzugt, daß die Absicht des Gesetzgebers, diese
zur normalen zu machen, zweifellos hervortritt. Obgleich die Debatte über
diese Bill noch nicht begonnen hat. der erste Theil derselben noch gar nicht
vorliegt, gilt die Annahme derselben für gesichert. Gladstone's bezüglicher Vor¬
trag wurde von Whigs und Tories gleich sympathisch begrüßt und nur
das finstere Schweigen der Vertreter Irlands erinnerte daran, daß unter
den gegebenen Verhältnissen an, eine vollständige Erreichung des politischen
Zwecks der Gesetzgeber nicht zu denken ist, die Bill wesentlich den Charakter
eines Gewissensbedürfnisses Alt-Englands trägt.

Nicht minder unversöhnlich als die Fenier Irlands zeigen sich die Radi¬
kalen des kaiserlichen Frankreich. Wohl sind die verbrecherischen Tumulte,
welche die Verhaftung Rocheiort's begleiteten, mühelos und unter Zustim¬
mung aller vernünftigen Leute zu Boden geschlagen worden, wohl hat das
Ministerium Ollivier seine bisherige Haltung vor dem gesetzgebenden Körper
zu rechtfertigen vermocht und durch die That bewiesen, daß es seine Ver¬
sprechungen durch eine ehrlich gemeinte Reformpolitik zu halten gedenkt; aber
Frankreich ist doch nur für den Augenblick beruhigt und die gegenwärtige
Ordnung der Dinge lebt von der Hand in den Mund, von einem Tage zum
andern. Die Majorität, auf welche der Großsiegelbewahrer sich stützt, ist
dem konstitutionellen Regiment "der Versöhnung der Freiheit mit der Au¬
torität" ebenso wenig Freund, wie die meuternde Linke; sie unterstützt das
gegenwärtige Cabinet eigentlich nur aus Gehorsam gegen den Kaiser und
weil dasselbe den Reactionären für das kleinste unter den zur Zeit unvermeid¬
lichen liberalen Uebeln gilt. Die Männer der Opposition und die liberalen
Freunde der Regierung drängen darum immer heftiger auf Auflösung der unter
dem alten Re'gine gewählten Kammer und auf die Ausschreibung neuer
Wahlen, und auf die Dauer wird Ollivier dem Verlangen seiner Freunde
schwerlich Stand zu halten vermögen. Aber es fragt sich, ob die von den¬
selben verfolgten Ziele zu dem vorgeschlagenen Mittel in irgend welchem
Verhältniß stehen. Daß eine auf die widerwillige Unterstützung geheimer
Absolutesten gestützte konstitutionelle Regierung eine Calamität ist und der
nöthigen Sicherheit des Handelns entbehren muß, läßt sich in der That nicht
leugnen. Welche Bürgschaften liegen aber dafür vor, daß eine constitutionelle
Regierung überhaupt möglich sein wird, wenn die Kammer vorwiegend aus
Männern besteht, die das erregbare französische Volk unter dem Einfluß


diese ist in der That die wichtigere. In der Hauptsache handelt eS sich um
drei verschiedene Systeme der Entschädigung abziehender Pächter für gemachte
Aufwendungen und entmißte Pachtjahre; die Sätze für dieselben sind höher
gegriffen, als in dem bekannten schottischen Pachtgesetz. Bestimmte Pacht-
Perioden schreibt der Gesetzentwurf nicht vor; dafür wird die Verpachtung
auf 31 Jahre so sichtlich bevorzugt, daß die Absicht des Gesetzgebers, diese
zur normalen zu machen, zweifellos hervortritt. Obgleich die Debatte über
diese Bill noch nicht begonnen hat. der erste Theil derselben noch gar nicht
vorliegt, gilt die Annahme derselben für gesichert. Gladstone's bezüglicher Vor¬
trag wurde von Whigs und Tories gleich sympathisch begrüßt und nur
das finstere Schweigen der Vertreter Irlands erinnerte daran, daß unter
den gegebenen Verhältnissen an, eine vollständige Erreichung des politischen
Zwecks der Gesetzgeber nicht zu denken ist, die Bill wesentlich den Charakter
eines Gewissensbedürfnisses Alt-Englands trägt.

Nicht minder unversöhnlich als die Fenier Irlands zeigen sich die Radi¬
kalen des kaiserlichen Frankreich. Wohl sind die verbrecherischen Tumulte,
welche die Verhaftung Rocheiort's begleiteten, mühelos und unter Zustim¬
mung aller vernünftigen Leute zu Boden geschlagen worden, wohl hat das
Ministerium Ollivier seine bisherige Haltung vor dem gesetzgebenden Körper
zu rechtfertigen vermocht und durch die That bewiesen, daß es seine Ver¬
sprechungen durch eine ehrlich gemeinte Reformpolitik zu halten gedenkt; aber
Frankreich ist doch nur für den Augenblick beruhigt und die gegenwärtige
Ordnung der Dinge lebt von der Hand in den Mund, von einem Tage zum
andern. Die Majorität, auf welche der Großsiegelbewahrer sich stützt, ist
dem konstitutionellen Regiment „der Versöhnung der Freiheit mit der Au¬
torität" ebenso wenig Freund, wie die meuternde Linke; sie unterstützt das
gegenwärtige Cabinet eigentlich nur aus Gehorsam gegen den Kaiser und
weil dasselbe den Reactionären für das kleinste unter den zur Zeit unvermeid¬
lichen liberalen Uebeln gilt. Die Männer der Opposition und die liberalen
Freunde der Regierung drängen darum immer heftiger auf Auflösung der unter
dem alten Re'gine gewählten Kammer und auf die Ausschreibung neuer
Wahlen, und auf die Dauer wird Ollivier dem Verlangen seiner Freunde
schwerlich Stand zu halten vermögen. Aber es fragt sich, ob die von den¬
selben verfolgten Ziele zu dem vorgeschlagenen Mittel in irgend welchem
Verhältniß stehen. Daß eine auf die widerwillige Unterstützung geheimer
Absolutesten gestützte konstitutionelle Regierung eine Calamität ist und der
nöthigen Sicherheit des Handelns entbehren muß, läßt sich in der That nicht
leugnen. Welche Bürgschaften liegen aber dafür vor, daß eine constitutionelle
Regierung überhaupt möglich sein wird, wenn die Kammer vorwiegend aus
Männern besteht, die das erregbare französische Volk unter dem Einfluß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/364>, abgerufen am 29.06.2024.