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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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radikaler Aufstachelungen, unter dem Eindruck allgemeiner oder doch weit¬
verbreiteter Erbitterung gegen die Decemberdynastie nach Paris gesendet hat?
Daß diese Dynastie von der Masse der Nation verurtheilt sei, brauchen wir
uns von den Führern der Pariser Allarmpartei freilich noch nicht einreden
zu lassen; aber hundert gegen eins ist zu wetten, daß eine frei gewählte
Kammer wesentlich aus Radicalen der Rechten wie der Linken bestehen wird
und daß diese die Anhänger eines wirklich constitutionellen Regimes in einen
bescheidenen Winkel drängen werden. Was soll dann geschehen? Da keiner
Negierung und am wenigsten der des dritten Napoleon zuzumuthen und zu¬
zutrauen ist, daß sie sich selbst aufgebe und das Staatsruder in die Hände
unwissender revolutionärer Utopisten lege, so bleiben nur zwei Möglichkeiten
übrig: Wiederherstellung des Systems Rouher oder. Berufung eines Mini¬
steriums der Centren, welches von der Angst seiner reactionären Feinde lebt
und diese zu Kompromissen mit den Mittelparteien zwingt. Diese Möglich¬
keiten sind schon durch die gegebene Lage geboten; die Kammerauflösung
hätte mithin keinen anderen realen Zweck als den der Beruhigung des libe¬
ralen Gewissens, des Gehorsams gegen den constitutionellen Katechismus.
Dieser Ertrag ist denn doch ein zu mäßiger, als daß ihm zu Liebe ein Hals-
brechendes Experiment, das die Ruhe des Staats für Monate untergraben
würde, geboten erscheinen könnte.

Zunächst ist das Ministerium Ollivier-Daru noch im Amt und vollauf
mit den Ausgaben beschäftigt, die ihm bereits bei seiner Constituirung
vorgelegt worden sind. Das neue Preß- und Wahlgesetz, die Amen-
dirung von Art. 76 vom Jahre VIII, die Umgestaltung der Departemental-
verwaltung sollen noch während der laufenden Session beendet, die Berathun¬
gen über den Handelsvertrag zum Abschluß gebracht werden. Die Zusam¬
mensetzung der parlamentarischen Commission, welche diese Frage vorbereiten,
beziehungsweise die in Aussicht genommene Enquete leiten soll, sichert der
Freihändlerpartei das Uebergewicht und beweist, daß die Befürchtungen vor
der Schwäche des Handelsministers und dem Einfluß der Thiers und Pouyer-
Quertier übertrieben waren. -- Einen ersten entscheidenden Schritt auf das
Gebiet der auswärtigen Politik hat Graf Daru durch seine Depesche über
Frankreichs Stellung zum Unfehlbarkeits-Dogma gethan. Trotz der eminen¬
ten Wichtigkeit der Sache liegen nur höchst spärliche und unverbürgte Nachrich.
ten über dieselbe vor; die Mittheilung der Times, daß von einer eventuellen
Zurückziehung des französischen Besatzungscorps aus Rom die Rede gewesen,
ist zwar durch eine römische Correspondenz der Kölnischen Zeitung bestätigt
worden, kann darum aber doch nicht als verbürgt angesehen werden.
Aber selbst wenn die französische Regierung zu dieser Drohung noch
nicht geschritten sein sollte und die Wiener Nachrichten über den Beust-


radikaler Aufstachelungen, unter dem Eindruck allgemeiner oder doch weit¬
verbreiteter Erbitterung gegen die Decemberdynastie nach Paris gesendet hat?
Daß diese Dynastie von der Masse der Nation verurtheilt sei, brauchen wir
uns von den Führern der Pariser Allarmpartei freilich noch nicht einreden
zu lassen; aber hundert gegen eins ist zu wetten, daß eine frei gewählte
Kammer wesentlich aus Radicalen der Rechten wie der Linken bestehen wird
und daß diese die Anhänger eines wirklich constitutionellen Regimes in einen
bescheidenen Winkel drängen werden. Was soll dann geschehen? Da keiner
Negierung und am wenigsten der des dritten Napoleon zuzumuthen und zu¬
zutrauen ist, daß sie sich selbst aufgebe und das Staatsruder in die Hände
unwissender revolutionärer Utopisten lege, so bleiben nur zwei Möglichkeiten
übrig: Wiederherstellung des Systems Rouher oder. Berufung eines Mini¬
steriums der Centren, welches von der Angst seiner reactionären Feinde lebt
und diese zu Kompromissen mit den Mittelparteien zwingt. Diese Möglich¬
keiten sind schon durch die gegebene Lage geboten; die Kammerauflösung
hätte mithin keinen anderen realen Zweck als den der Beruhigung des libe¬
ralen Gewissens, des Gehorsams gegen den constitutionellen Katechismus.
Dieser Ertrag ist denn doch ein zu mäßiger, als daß ihm zu Liebe ein Hals-
brechendes Experiment, das die Ruhe des Staats für Monate untergraben
würde, geboten erscheinen könnte.

Zunächst ist das Ministerium Ollivier-Daru noch im Amt und vollauf
mit den Ausgaben beschäftigt, die ihm bereits bei seiner Constituirung
vorgelegt worden sind. Das neue Preß- und Wahlgesetz, die Amen-
dirung von Art. 76 vom Jahre VIII, die Umgestaltung der Departemental-
verwaltung sollen noch während der laufenden Session beendet, die Berathun¬
gen über den Handelsvertrag zum Abschluß gebracht werden. Die Zusam¬
mensetzung der parlamentarischen Commission, welche diese Frage vorbereiten,
beziehungsweise die in Aussicht genommene Enquete leiten soll, sichert der
Freihändlerpartei das Uebergewicht und beweist, daß die Befürchtungen vor
der Schwäche des Handelsministers und dem Einfluß der Thiers und Pouyer-
Quertier übertrieben waren. — Einen ersten entscheidenden Schritt auf das
Gebiet der auswärtigen Politik hat Graf Daru durch seine Depesche über
Frankreichs Stellung zum Unfehlbarkeits-Dogma gethan. Trotz der eminen¬
ten Wichtigkeit der Sache liegen nur höchst spärliche und unverbürgte Nachrich.
ten über dieselbe vor; die Mittheilung der Times, daß von einer eventuellen
Zurückziehung des französischen Besatzungscorps aus Rom die Rede gewesen,
ist zwar durch eine römische Correspondenz der Kölnischen Zeitung bestätigt
worden, kann darum aber doch nicht als verbürgt angesehen werden.
Aber selbst wenn die französische Regierung zu dieser Drohung noch
nicht geschritten sein sollte und die Wiener Nachrichten über den Beust-


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[0365] radikaler Aufstachelungen, unter dem Eindruck allgemeiner oder doch weit¬ verbreiteter Erbitterung gegen die Decemberdynastie nach Paris gesendet hat? Daß diese Dynastie von der Masse der Nation verurtheilt sei, brauchen wir uns von den Führern der Pariser Allarmpartei freilich noch nicht einreden zu lassen; aber hundert gegen eins ist zu wetten, daß eine frei gewählte Kammer wesentlich aus Radicalen der Rechten wie der Linken bestehen wird und daß diese die Anhänger eines wirklich constitutionellen Regimes in einen bescheidenen Winkel drängen werden. Was soll dann geschehen? Da keiner Negierung und am wenigsten der des dritten Napoleon zuzumuthen und zu¬ zutrauen ist, daß sie sich selbst aufgebe und das Staatsruder in die Hände unwissender revolutionärer Utopisten lege, so bleiben nur zwei Möglichkeiten übrig: Wiederherstellung des Systems Rouher oder. Berufung eines Mini¬ steriums der Centren, welches von der Angst seiner reactionären Feinde lebt und diese zu Kompromissen mit den Mittelparteien zwingt. Diese Möglich¬ keiten sind schon durch die gegebene Lage geboten; die Kammerauflösung hätte mithin keinen anderen realen Zweck als den der Beruhigung des libe¬ ralen Gewissens, des Gehorsams gegen den constitutionellen Katechismus. Dieser Ertrag ist denn doch ein zu mäßiger, als daß ihm zu Liebe ein Hals- brechendes Experiment, das die Ruhe des Staats für Monate untergraben würde, geboten erscheinen könnte. Zunächst ist das Ministerium Ollivier-Daru noch im Amt und vollauf mit den Ausgaben beschäftigt, die ihm bereits bei seiner Constituirung vorgelegt worden sind. Das neue Preß- und Wahlgesetz, die Amen- dirung von Art. 76 vom Jahre VIII, die Umgestaltung der Departemental- verwaltung sollen noch während der laufenden Session beendet, die Berathun¬ gen über den Handelsvertrag zum Abschluß gebracht werden. Die Zusam¬ mensetzung der parlamentarischen Commission, welche diese Frage vorbereiten, beziehungsweise die in Aussicht genommene Enquete leiten soll, sichert der Freihändlerpartei das Uebergewicht und beweist, daß die Befürchtungen vor der Schwäche des Handelsministers und dem Einfluß der Thiers und Pouyer- Quertier übertrieben waren. — Einen ersten entscheidenden Schritt auf das Gebiet der auswärtigen Politik hat Graf Daru durch seine Depesche über Frankreichs Stellung zum Unfehlbarkeits-Dogma gethan. Trotz der eminen¬ ten Wichtigkeit der Sache liegen nur höchst spärliche und unverbürgte Nachrich. ten über dieselbe vor; die Mittheilung der Times, daß von einer eventuellen Zurückziehung des französischen Besatzungscorps aus Rom die Rede gewesen, ist zwar durch eine römische Correspondenz der Kölnischen Zeitung bestätigt worden, kann darum aber doch nicht als verbürgt angesehen werden. Aber selbst wenn die französische Regierung zu dieser Drohung noch nicht geschritten sein sollte und die Wiener Nachrichten über den Beust-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/365>, abgerufen am 28.09.2024.